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Bibliothekarische Stimmen. Independent, täglich.

Wiki bus by Mourad Diouri, on Flickr: http://www.flickr.com/photos/earabic/3257884220/ (CC-Lizenz BY-NC-SA)

Erfahrungen und Überlegungen zu Wiki-Workshops an Bibliotheken

Ich erwische mich letzter Zeit häufiger dabei, in Workshops, die den Umgang mit wissenschaftlichen Publikationen erklären (oder zumindest näherbringen) sollen, zunächst einmal zu erläutern, wie man einen Artikel in der Wikipedia beurteilt und bearbeitet. Es wird Zeit, meine Erfahrungen und Überlegungen damit einmal zur Diskussion zu stellen, was ich im folgenden Blogartikel tue.

“Living Handouts” mit Etherpad

Wenn ich einen nachmittag lang eine Gruppe von ausländischen und deutschen StudienanfängerInnen vor mir habe, dann beginne ich den Workshop damit, eine Gruppe von freiwilligen Teilnehmenden die besprochenen Inhalte in einem Etherpad dokumentieren zu lassen. (Diese Idee, und manches mehr, habe ich aus dem Blog von Howard Rheingold.)
Im Laufe des Workshops geht es auch darum, daß gemeinsame Vorlesungsschriften im Etherpad eine tolle Lernstrategie sein können; daß man überraschend schnell lernt, wie man mit mehreren zeitgleich in einem Dokument arbeitet; daß dies auch in offener Kollaboration im Wikipedia-Stil funktioniert; daß es in einem kleinen Etherpad und in der großen Wikipedia auf unterschiedliche Weise kompliziert sein kann, sich untereinander abzustimmen, und anderes mehr.

Wikipedia für SchülerInnen erklärt: Weder endgültig, noch gleichgültig, noch selbstverständlich…

Wenn ich SchülerInnen vor mir habe, schlage ich vor, sich von den LehrerInnen einmal die Hausaufgabe geben zu lassen, einen Fehler oder eine Lücke in einem Wikipedia-Artikel identifizieren und zu füllen; daß es aber auch heftig sein kann, sich mit dem eigenen Schreiben einem potentiell weltweiten Publikum zu exponieren. Daß es nicht gleichgültig ist, was in der Wikipedia steht — was z.B. daran abzulesen ist, daß akademische Berufsvereinigungen an ihre Mitglieder appellieren, an der Wikipedia mitzuschreiben. Ich frage dann, warum hochbezahlte SpezialistInnen so etwas wohl wollen könnten, und freue mich mit den Teilnehmenden über die vielen und überraschenden Antworten, die uns auf diese Frage einfallen. Ich verrate den SchülerInnen den “Trick”, daß sie sich in ihren Old-School-Hausaufgaben zwar nicht explizit auf ihr Wissen aus der Wikipedia berufen dürfen, aber daß gute Wikipedia-Artikel Literaturverweise auf wissenschaftliche Literatur zum Artikelthema enthalten. Daß diese oft, wie die Wikipedia selbst, frei online zugänglich sind, daß diese leider aber nicht selbstverständlich ist, obwohl die ganze aktuelle Forschung längst im Internet steht.

…aber leider immer in zu kurzer Zeit erklärt, und in Wirklichkeit nie so gut wie als Idee

Randbemerkung 1: Wiki-Workshops sind immer zu kurz. Schöner als so eine fiktive Hausarbeit wäre natürlich das Bearbeiten eines Wikipedia-Artikels im Workshop selbst. Aber so etwas wäre nur für eine Veranstaltung sinnvoll, die sich mit mehreren Sitzungen über z.B. ein ganzes Semester erstreckt, denn ohne das Feedback der AutorInnengemeinschaft läßt sich daran nichts lernen.
Randbemerkung 2: Die Idee der Wikipedia ist besser, haltbarer und wichtiger als die Wikipedia selbst. Ich bestreite keineswegs, daß die Wikipedia in mancher Hinsicht heute jämmerlich ist. Am besten und genauesten erfährt man davon übrigens durch den Jammer engagierter Wikipedia-AutorInnen selbst, wie etwa in Sue Gardners Blogartikel über den Gender Bias der Wikipedia.

BibliothekarInnen als teilnehmende BeobachterInnen des Wiki-Wirbelwinds

Mit BerufskollegInnen aus dem Bibliotheksbereich gehe ich das Thema anders an. Hier versuche ich neben Hands-on-Beispielen und praktischen Alltagsanwendungen auch einen abstrakten Vergleich zwischen Wikis und Prä-Web-Medien anzustellen. Letztlich stelle ich immer wieder die Hypothese zur Diskussion, daß originäre Webmedien wie Wikis und Weblogs neue Formen des wissenschaftlichen Schreibens bringen, die in historischer Rekordzeit eine Medienrevolution (nicht nur des wissenschaftlichen) Publikationswesens verursachen, wir als BibliothekarInnen natürlich mitten im Auge dieses Sturms stehen, und daß wir deshalb wenigstens versuchen sollten, sowas wie teilnehmende BeobachterInnen dieses Wirbelwinds zu werden.

Graduierte/r und öffentlich schreibende Person — ein trauriger Selbstwiderspruch?

Für AbsolventInnen und Graduierte habe ich versucht, das Thema Wikis ebenfalls aufzubereiten. (Als kleinen Unterabschnitt umfassender Workshops über digitale Publikationsstrategien.) Diese AdressatInnen glauben sich allerdings oft keinerlei Neugier erlauben zu können, geschweige denn ein Experimentieren mit neuartigen Formen des kollaborativen Schreibens. Insbesondere die “eigenen” Erkenntnisse gilt es in den Augen dieser Studierenden zu schützen, bis sie sich im Rahmen einer Prüfungsszenarios als individueller Leistungsbeweis verwenden lassen. Direkt danach folgt dann für viele die Jagd nach Silos “renommierter” Verlage, in denen man die eigenen Arbeiten verstecken müsse, um Berufsaussichten im Wissenschaftsbetrieb zu haben. — Eine sehr getragene Perspektive auf das eigenen Schreiben, in der eine wissenschaftliche Öffentlichkeit oder gar eine Interaktion mit ihr überraschenderweise kaum vorkommt.

Aus erster Hand: Die Erfahrung des öffentlichen Schreibens, der Diskussion, des Erfolgs und des Scheiterns

Ich vermute, mir gelingt es manchmal, Teilnehmende solcher wiki-lastigen Workshops an eine interessante Erfahrung heranzuführen: Die Erfahrung des öffentlichen Schreibens und des öffentlichen Widerstreits um Relevanz, (In-)Korrektheit und Verbesserung einer veröffentlichten Aussage. (Und mit dem öffentlichen Widerstreit über die Korrektheit meine ich etwas anderes als das übliche Arsenal der Tipps und Tricks, um den eigenen Artikel durch den standardisierten Peer Review typischer Journals zu bringen. Das ist nicht Teilnahme an einem wissenschaftlichen Diskurs, sondern Teilnahme an einem Kochkurs. Sorry für den Kalauer.) Diese Erfahrung aus erster Hand zu machen und die Fragen zu besprechen, die dabei entstehen, ist gut, um die Praxis des wissenschaftlichen Publizierens besser zu verstehen.
Ich behaupte: Die Erfahrung zu machen, öffentliches Wissen selbst zu produzieren ist ein Lernziel, das zeitgemäßer und “aktivierender” ist als Wissenschaftsinteressierte primär als InformationskonsumentInnen anzusprechen.

AutorInnen als die klügeren LeserInnen

Wer heute in deutschen Bibliotheken und Informationseinrichtungen Veranstaltungen besucht, um etwas darüber zu erfahren, wie man heute mit digitalen Werkzeugen Wissenschaft betreibt, wird sich sehr oft in eine solche KonsumentInnenrolle versetzt finden.  Manchmal ist das ja auch in Ordnung: Wenn man sich in kurzer Zeit die Bedienung eines Recherche- oder Literaturverwaltungs-Werkzeugs beibringen lassen will, wird man sich freuen, im Veranstaltungsprogramm entsprechende Angebote zu finden.
Allerdings: Eine Vorstellung davon zu haben, was überhaupt publiziertes Wissen ist, wie es zustande kommt, wie es Kritik provoziert, und was es bedeutet, Wissen im Internet frei zugänglich zu machen — das alles wäre eine gute Voraussetzung dafür, sich auch die typischen “KonsumentInnenfragen” nach dem Auffinden und Aussortieren von Informationen klüger und motivierter zu stellen. Um dieser Erfahrung einen Raum zu verschaffen brauchen wir Workshops, die formal und inhaltlich anders funktionieren als InformationskonsumentInnen-Schulungen.

Unbeabsichtigte Nebenwirkung von Wiki-Workshops: Bibliotheks-Erwartungen produktiv enttäuschen

Nicht Zweck, aber nach meiner Erfahrung ein regelmäßig eintretender Nebeneffekt solcher umgestülpten Workshops: Die Erwartungen der Teilnehmenden an alles, was Bibliothek und BibliothekarInnen ausmacht werden gründlich enttäuscht.
Daß moderne wissenschaftliche Bibliotheken längst in vielfacher Hinsicht internetbasierte Unternehmungen sind; daß die urbibliothekarischen Aufgaben des Sortierens und Wiederauffindbarmachens von Informationen mit dem Internet nicht verschwunden, sondern um Größenordnungen gewachsen sind; daß BibliothekarInnen — qua Berufsethik — Partei sind in der heute tobenden historischen Schlacht um die allgemeine Zugänglichkeit wissenschaftlicher Informationen, all das kann man natürlich auch beteuern. (Manchmal würde ich mich schon freuen, wenn wir’s zumindest mal häufiger beteuerten…)
Etwas anderes ist es aber, wenn wir im gemeinsamen Ausprobieren genau diese Ausrichtung bibliothekarischen Engagements praktisch zeigen. Wer einmal so einen Workshop besucht hat, wird die Bedienungstipps zur Wikipedia vielleicht bald wieder vergessen haben. Aber er wird danach nie wieder eine wissenschaftliche Bibliothek mit einem Antiquariat verwechseln. Je früher diese Erfahrung gemacht wird umso besser. Fast alle LehrInnen, die an meinen Workshops für SchülerInnen mit teilgenommen haben, sprachen mich jeweils im Anschluß an die Veranstaltungen auf die die speziellen Bibliotheksführungen für SchülerInnen an, auf die ich mit der letzten Folie hinweise.

 

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Autor: Lambert Heller

Bibliothekar. Interessiert sich für (wissenschaftliche) Kommunikation im Netz, Open Access, Open Knowledge Production, Literaturverwaltung und Bibliothek 2.0. Mehr über mich.