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Bottom-Up-Strategien bei der Literaturrecherche

Foto von Ajari

Foto von Ajari

Mit dem Gegensatzpaar “Top Down-Bottom up” lassen sich bekanntlich die unterschiedlichsten Strategien zur Lebensführung und Arbeitsbewältigung charakterisieren. Inspiriert durch ein Gespräch mit einer Psychologie-Professorin, die universitäre Schreibwerkstätten betreut und es dabei mit disziplinierten Top-Down-AutorInnen und eher “reizgesteuert” arbeitenden Bottom-Up-Texterinnen zu tun hat, habe ich mal überlegt, dieses Prinzip einmal auf den Prozess der Literaturrecherche zu übertragen. Sich systematisch durch lokale und überregionale Kataloge zu fräsen, eine oder mehrere bibliografische Datenbanken angepasst an die Fragestellung zu identifizieren und zu benutzen, Literatur per Fernleihe zu bestellen und die Beute dann mit einschlägigen Programmen zu verwalten: Das unterrichten wir in unseren Veranstaltungen. Wir vermitteln Wissen über bibliografische Werkzeuge und deren Benutzung und setzen darauf, dass die Studierenden mit diesem Wissen arbeiten können/wollen/sollen.

Das ist auch keineswegs falsch. Ich denke bloß, dass wir uns vielleicht klarer machen sollten, dass wir damit nur eine von zwei “Strategierichtungen” bedienen (einzelne Strategien wird es wie Sand am Meer geben, daher die Zusammenfassung in Richtungen). Ethnografische Studien zum Informationsverhalten von Studieren belegen nicht erst seit gestern, dass sich “Bottom Up”-Strategien weitaus größerer Beliebtheit erfreuen: Literaturlisten von Lehrenden oder vorhandenen, als gut eingestuften Büchern auswerten, am Bücherregal entlanggehen oder einen Stapel Zeitschriften durchblättern, Artikel googlen statt per Fernleihe bestellen. In bibliothekarischen IK-Veranstaltungen wird darauf wenig eingegangen – die Latte hängt weitaus höher. Aus dem Umfeld dem Projekt “Ethnographic Research in Illinois Academic Libraries” stammt folgender schöne Satz (zitiert nach einem Artikel aus Inside Higher Education):

Showing students the pool and then shoving them into the deep end is more likely to foster despair than self-reliance

Wie verschafft man den Studierenden also einen besseren Einstieg in den Swimmingpool? Zum einen wahrscheinlich damit, dass man die anderen Strategien  überhaupt als valide Strategien anerkennt, auch wenn die einem wie Babyschwimmen im klaren Flachwasser erscheinen mögen. Ich kann mich daran erinnern, mit einer Kollegin mal länger darüber diskutiert zu haben, ob man das “Am Regal entlanggehen” tatsächlich empfehlen sollte: Es sei ja immer viel entliehen, E-Books würde man da auch nicht sehen und überhaupt könnte relevante Literatur ja auch noch an einem anderen Ort stehen. Das ist alles richtig, aber wie beliebt das “Shelf Browsing” ist, nehme ich immer wieder dann mit Verwunderung zur Kenntnis, wenn ich Leute in Numerus-currens-Aufstellungen schmökern sehe.  Wie viel sinnlicher ist das als eine Datenbankrecherche?

Wir testen gerade ein Programm, dem wir den Arbeitstitel “Buch die Bibliothekarin” gegeben haben und das ein wenig an die “Hausbesuche” in Münster oder die “Stippvisiten” in Hannover erinnert: Wir gehen in Veranstaltungen und zeigen dort passend zum Thema, wo und wie man recherchieren kann. Einer meiner ersten Besuche war in einem literaturwissenschaftlichen Seminar, in dem es um Romane im 20. Jahrhundert ging. Ich habe einen dicken Stapel Bücher mitgeschleppt: Eine älterer Jahrgang der “Bibliographie der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft” (BDSL) , ein Stoffelexikon, ein paar Dissertationen über einschlägige Autoren, zwei Personenbibliographien, einen Zeitschriftenband. Mein ursprünglicher Plan war, dass sich die TeilnehmerInnen in kleinen Gruppen eines dieser Bücher vornehmen und auf Tauglichkeit für den Rechercheeinstieg nach einem jeweils passend fingierten Thema überprüfen. Dass es dazu nicht kam, lag daran, dass die Gruppe eigenartiger Weise schon so neugierig war auf “die Datenbanken”, dass wir dann damit angefangen haben. Aber  im Fortgang der Veranstaltung erwies es sich dennoch als hilfreich, die “Old School”-Print-Ausgabe der BDSL dabei zu haben, um den Unterschied zwischen bibliografischen Nachweis und Volltext sinnlich erlebbar zu machen. Das beste an dieser Schulung war aber eigentlich die anwesende Professorin, die Gelegenheit hatte, die Anforderungen an den Literaturgebrauch (Menge, Tiefe) für die zu schreibenden Arbeiten zu schärfen und Tipps für Relevanzbeurteilungen zu geben. Am Ende wurde ziemlich gut klar, dass es zwar mühselig ist, mit Datenbanken zu arbeiten – man muss den richtigen Suchbegriff finden, bei der Trefferliste die Spreu vom Weizen trennen und dann vermutlich auch noch ertragen ertragen, dass Text nicht nach Mausklick, sondern zweiwöchiger Wartezeit auf die Fernleihlieferung erscheint.  Aber gleichzeitig beginnt mit der Recherche auch schon ein Lernprozess, dessen Ergebnisse auch schon wertvolle Textzeilen für die Hausarbeit bilden: Wie intensiv wird eine bestimmte Autorin aktuell beforscht? Welche Rückschlüsse erlaubt das auf die Eignung des Themas für Seminar-  oder Abschlussarbeiten? Wer außer Kafka hat das Motiv des Labyrinths verwendet? Wenn nicht im 20. Jahrhundert, dann vielleicht davor? Wenn man es schafft, diese Fragen und Neugier auf die Antworten aufzubauen, dann entlässt man Schulungs-TeilnehmerInnen, denen es dann wirklich in den Fingern juckt – und die beim vermutlich unvermeidlichen Recherchefrust einen kühlen Kopf bewahren und nicht aufgeben.

Weitere Ideen, wie man Bottom-Up-Strategien in IK-Veranstaltungen berücksichtigen kann?

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