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Ein Versuch über bibliothekarische Beratungsethik

Die SUUB Bremen postete dieser Tage auf ihrer Facebook-Seite ein Zitat von Neil Gaiman: „Google can bring you back 100,000 answers, a librarian can bring you back the right one.” Zugegeben. Auch ich finde an solchen Sprüchen Erbauung, und auch andere Bibliothekarinnen-Seelen scheinen bisweilen vom Konkurrenzdruck gebeutelt zu sein, auf jeden Fall gingen  einschlägige Daumen hoch. Aber noch mehr beweist dieser Spruch: Eine hohe und konsistente Antwortqualität gehört zu den bibliothekarischen Leitbildern schlechthin.

Wie sieht es aber in Wirklichkeit aus? Helfen wir wirklich dabei, die Stecknadel im Heuhaufen, die richtige Antwort, zu finden? Wir bieten Discovery Systeme an, die Treffermengen in ähnlich schwindelerregenden Höhen produzieren wie Google. Lukas Koster hat Discovery Systeme in einem  – auch sonst sehr nachdenklich machenden – Vortrag kürzlich als „Rückzugsgefechte“ bezeichnet, mit denen Bibliotheken versuchen aufzuhalten, was aber ohnehin unaufhaltbar sei, nämlich die Nicht-Nutzung bibliothekarischer Systeme für thematische Suchen.

Und auch dem bibliothekarischen Herzens-Thema fehlt in der Durchführung mitunter der Biss: Wir sind ausgesprochen gut darin, die Auswahl und Benutzung von Katalogen und Datenbanken zu erläutern. Wie schon mal ausgeführt habe ich aber bisweilen den Eindruck, dass wir uns um die Fragen, die unserem Publikum am meisten auf den Nägeln brennen, herumdrücken – nämlich die danach, welche der mehr oder weniger mühsam ermittelten Treffern denn nun bitteschön Hausarbeits-relevant sind. Ich kenne keine Handouts, Schulungen oder Online-Tutorials von Bibliotheken, in denen irgendwelche Handreichungen dazu gegeben wurden, wie man die Qualität von Treffern in Datenbanken beurteilt.

In meinen Augen gibt es also ein gewisses Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Zu dessen Erklärung habe ich zwei Hypothesen:

  1. Wir BibliothekarInnen finden in der Regel, dass wir auf ganz dünnem Eis arbeiten  – zumindest dann, wenn wir nicht FachreferentInenn sind und in unserer Schokoladendisziplin beraten oder schulen. Wir wissen, dass wir den aktuellen Diskurs in einzelnen Fachgebieten weder verstehen oder wenigstens ungefähr ermessen können. Unsere Fachkenntnis reicht in den meisten Fällen nicht aus, um auf dem hohen Niveau, das wir anstreben, Antworten zu geben, jedenfalls empfinden wir das so.
  2. Wir BibliothekarInnen finden auch, dass es etwas Bevormundendes hat, den NutzerInnen eine konkrete Empfehlung für das eine Lehrbuch oder einen Artikel aus der Trefferliste in einer Datenbank zu geben. Der große Respekt vor der Selbstbestimmtheit, dem Wissen und der Vernunft unserer NutzerInnen ist ein hohes Gut, ebenso wie die absolute Neutralität und Unvoreingenommenheit in der Beratung. Davon kann man sich in diversen berufsethischen Leitlinien überzeugen.

Überspitzt zusammengefasst: Weder meinen wir, die richtige Antwort geben zu können, noch wollen wir das wirklich, denn: Was ist schon richtig?

Können wir wirklich nicht? Machen wir uns da nicht ein bisschen klein? Wir wissen doch, welches seriöse Verlage sind – bei beluga wurden die Titel aus „guten“ Verlagen prominenter platziert. Wie wäre es außerdem mit einem neu von uns entwickelten Relevanz-Indikator für Zeitschriften auf Grundlage der Zeitschriftendatenbank? Ein Titel, der in mindestens x % der Hochschulbibliotheken in Deutschland (oder darüber hinaus) laufend gehalten wird, bekommt einen höheren Indikator als eine seltene r oder unvollständig vorhandene  Zeitschrift. Dann noch fachliche Besonderheiten reinrechnen und optional noch ein wenig Impact Factors – einen Versuch wäre es doch wert! Und wir unterschätzen auch unsere Erfahrung: Ein unbedarfter Nutzer kann mit einer Trefferliste aus PsycInfo nahezu nichts anfangen.  Aber was sehen wir Eingeweihten nicht schon alles auf den ersten Blick? Der Bachelor-Student sollte für seine Hausarbeit doch keinen einseitigen Artikel bestellen oder auf den Trichter kommen, per Auslandsfernleihe die Dissertation aus Arizona. Allein schon solche ganz formalen Tipps können schon sehr hilfreich sein – und niemand könnte Unbedarftheit oder Urteilsnahme unterstellen.

Warum aber fürchten wir uns so vor dem Urteil und der Empfehlung? Ist es wirklich übergriffig, dem Bachelorstudenten klipp und klar zu sagen: „Junge, ich würde dir raten, besorg dir Titel 3,6 und 7 von deiner Liste.“ Noch weitergehend ist die Idee, allen Erstsemestern einen Gutschein zu geben für eine bestimmte Menge an relevanten Titeln zu dem Thema der ersten Arbeit. Je nachdem, welche Vorstellung man von Informationskompetenz hat, kann man sich vor einer solchen Idee ganz schön ekeln.

Aber zurück zu der Frage nach dem Warum oder genauer: dem Woher unseres kollektiven Respektes vor der Selbstbestimmtheit, das uns doch auch im Weg steht bei der Erfüllung des Anspruches, die richtigen oder zumindest guten Antworten zu finden. Zunächst glaube ich, dass dieser Respekt überhaupt nur implizit besteht. Ich kann mich nicht erinnern, am Anfang meiner Zeit als Auskunftsbibliothekarin mal an die Seite genommen worden zu sein und explizit gehört zu haben: „Halt dich bloß zurück mit Urteilen, du kannst gar nicht mehr tun als nur den Katalog/die Datenbank zu erklären, damit umgehen, was dabei rauskommt, müssen die schon allein“. Trotzdem habe ich relativ unbewusst jahrelang nach solchen und ähnlichen unausgesprochenen Maximen gehandelt.

Eine systematische Untersuchung der tatsächlich praktizierten bibliothekarischen Berufsethik und ihrer Motivation stelle ich mir ausgesprochen interessant vor. Unabhängig davon noch ein ganz persönlicher Erklärungsversuch, den ich mit folgender Anekdote einleiten möchte: Der erste Bibliotheksbesuch in meinem Leben erfolgte mit dem Ziel der Entleihung von neuem Lesefutter aus der „Hanni und Nanni“-Reihe. Die Bibliothekarin teilte mir unumwunden mit, dass man „so etwas“ nicht führe. Den Schund kaufte ich fortan vom Taschengeld, wurde aber trotz der anfänglichen Scham über den vermeintlichen Faux Pas zu einer eifrigen Leserin von wertvollerer Literatur.

Ich habe mich also „emporgelesen“ – und bin damit einer erfolgreiches Produkt einer Beratungsethik, die in den 1920er Jahren einen Richtungsstreit im deutschen Bibliothekswesen ausgelöst hat, der vielleicht durchaus das eine oder andere zu tun hat mit unserem heutigen Dilemma. Damals gab es eine so genannte „Leipziger Richtung“, die genau jenes „Emporlesen“ als Ziel bibliothekarischen Tuns in Punkto Bestandsaufbau, -präsentation und Beratung hatte. Die Leserinnen und Leser wurden in Gruppen eingeteilt und hatten Leseziele zu erreichen: Wer mit Rosamunde Pilcher anfängt, sollte es irgendwann zu Jane Austen bringen. Wobei Rosamunde Pilcher möglicherweise unter die Schund-Kategorie gefallen wäre, die es gar nicht in den Bestand einer Bibliothek geschafft hätte. Die andere, Stettiner Richtung hatte mit Schund offenbar weniger Probleme, Hauptsache, die Benutzungszahlen stimmten. Ich vereinfache hier stark und der ganze Richtungsstreit hatte noch weitere Dimensionen, auf die ich hier aber gar nicht eingehen möchte – zumal sich die Diskussion allein um öffentliche Bibliotheken drehte. (Literaturtipp: Rusch, Beate: Die Untere Grenze beim Bestandsaufbau. Zu einer volksbibliothekarischen Diskussion der 50er Jahre. In: BIBLIOTHEK. Forschung und Praxis 21 (1997) 2, S. 173-194. DOI: 10.1515/bfup.1997.21.2.173)

Jedenfalls hat mir seinerzeit im Studium in Hamburg, als ich dem Richtungsstreit zum ersten Mal begegnete, sehr geschaudert angesichts des bevormundenden Verhaltens der Leipziger Richtung – und möglicherweise habe ich meine frühe Beratungsethik in Abgrenzung genau dazu entwickelt. Heute frage ich mich aber, ob ich nicht mit meiner Befürwortung von ausgeklügeltem Relevance Ranking und der Frei-Haus-Lieferung von Fachartikeln nicht genau in jener Tradition stehe. Beide Vorschläge tragen stark bevormundende Züge. Meine Motive wären auch nicht anders als die von Walter Hofmann (einem der Protagonisten des Richtungsstreits) und Co.: Menschen da abholen, wo sie sind und vom konsumierenden zum einem reflektierteren Informationsverhalten erziehen. Allerdings würde ich davon ausgehen, dass meine fertig konfektionierten Angebote ab einem bestimmten Punkt Widerspruch erzeugen: Woher weiß die Bibliothek, was gut für mich ist? Aber diese Zweifel halte ich für eine sehr gute Ausgangslage, um dann das selbstbestimmte Recherchieren zu erlernen und auf die fertig konfektionierten Angebote als Stützräder oder Schwimmflügel zu verzichten.

Ob diese Richtungsstreit-Analogie wirklich haltbar ist, wäre noch zu klären. Ich würde dennoch sagen, dass wir eine „invasivere“ Beratung brauchen – aber natürlich ohne die ausgrenzenden und bevormundenden Beigeschmäcke von damals, sondern mit dem Ziel, rasches Eintauchen in Inhalte zu befördern und das eigene Nachdenken der so bedienten BenutzerInnen zu stimulieren. Was bedeuten diese Ziele für die Gestaltung von Auskunftsgesprächen und Schulungsangeboten- oder auch Publikationsberatungen, über die Lambert Heller nachdenkt? Nachdem Bibliotheken das Angebot von Publikationsservern für sich entdeckt haben, stellt sich nun folgerichtig die Frage, wer denn nun die AutorInnen zu Fragen nach dem Wo und Wie des Open-Access-Publizierens beraten sollte. Wenn wir BibliothekarInnen in der Tat meinen, dass unser „Unterscheidungsmerkmal“ zu Google und Co. die individuelle Ermittlung des „Richtigen“ ist – egal ob nun Literaturangabe oder Publikationsstrategie, dann müssen wir unsere Beratungsethik und –praxis überdenken und uns mehr (zu-)trauen. Ich denke nicht, dass wir dabei unser Selbstbild von einer neutralen Instanz ändern müssen, die „die Autonomie von BenutzerInnen und AutorInnen beachtet und fördert“ (leicht abgewandelt zitiert nach Lambert Heller). Aber ich glaube, dass wir beide Gruppen noch besser und intensiver begleiten sollten und das auch können.

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