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Mentale Modelle: Die Brücke zwischen Discovery Tools und Informationskompetenz?

Nächste Woche tagt die AG Informationskompetenz im GBV und wird sich damit beschäftigen, was die neuen Suchtools für die Vermittlung von Informationskompetenz bedeuten. Leider werde ich nicht dabei sein können: Ich bin dann schon auf dem Weg zum Infocamp nach Chur, wo das Thema aber auch schon auf der Liste der Wunsch-Sessions steht.

In Ermangelung eigener Erfahrungen bei der Einbeziehung von Discovery Tools in IK-Veranstaltungen habe ich aber ein bisschen Literaturstudium betrieben, zumal der Launch unserer Summon-Installation in LG kurz bevorsteht und wir uns auch mit der Frage beschäftigen müssen, welche Rolle das neue Instrument in IK-Veranstaltungen und Auskunftsdienst spielen wird. Vor drei Jahren hätte ich noch zurückgefragt: “Wie, welche Rolle? Die zentrale, natürlich!”. Damals habe ich noch an beluga gearbeitet, dem Discovery-Tool im Eigenbau, und in meiner Vorstellung war das fertige Produkt so gut, dass der herkömmliche Katalog nicht mehr benutzt werden braucht. Dass das schon allein deswegen unrealistisch ist, weil dem herkömmlichen Katalog offene Schnittstellen zu Konto-Funktionen fehlen und man allein schon des Vormerkens, Verlängerns und Magazin-Bestellens wegen aus dem Discovery-Tool in den Katalog zurück muss, gehört zu den schmerzvollen Erfahrungen von nunmehr über vier Jahren Entwicklungs- und Implementierungsarbeit mit ganz unterschiedlichen  Plattformen.

Noch mehr Schmerz als die Technik bereitet mir aber etwas, das ich schon lange zu benennen versuche und nun langsam in der Lage bin in Worte zu fassen: Ich bin der Überzeugung, dass die mentalen Modelle, die BibliothekarInnen und NutzerInnen von der Suche in Informationsmitteln haben, grundsätzlich absolut verschieden sind und das Unterrichten von Summon, Primo, vuFind und Co. nur dann möglich ist, wenn wir uns dieser Unterschiede bewusst sind und darauf angemessen reagieren. Diese unterschiedlichen Modelle sind meines Erachtens auch daran Schuld, dass sich die bibliothekarischen Herzens nur sehr schwer für die neuen Tools erwärmen können – Stichworte: Standardsortierung nach Relevanz und unvorhersehbare Ergebnismengen.

Aber der Reihe nach: Geburtshelfer für die Entwicklung dieser Thesen war ein Artikel von Lucy L. Holman mit dem Titel “Millennial Students’ Mental Models of Search: Implications for Academic Librarians and Database Developers”, in dem aufgezeigt wird, dass sich nur die allerwenigsten Studierenden Gedanken über die Funktionsweise von Suchmaschinen machen, entsprechend unreflektiert damit arbeiten und deswegen umso stärker darauf verlassen, dass das System sie beispielsweise mit Rechtschreibprüfung, Relevanzsortierung und Vollständigkeit unterstützt. Wie anders dagegen doch unser bibliothekarischer Ansatz: Wir wissen, wir unsere und andere Metadaten entstehen und wo diese verzeichnet sind und modellieren unseren gesamten Suchprozess auf Grundlage dieses Wissens: Wir wählen bewusst aus, wo wir suchen. Wir  sind in der Lage, elaborierte Anfragen zu konstruieren. Und wir setzen uns sorgfältig mit den Werkzeugen auseinander, die uns die Suchmaschinen zur Eingrenzung und Präzisierung unserer Anfragen an die Hand geben. Unser mentales Modell von der Suche entstammt aus unserem Wissen über die Entstehung und Funktionsweise von Katalogen und Datenbanken. Das unserer NutzerInnen wird, das ist alles andere als neu, von Google geprägt: Es gibt den einen umfassenden Einstieg. Das System verzeiht meine Fehler. Es denkt für mich mit indem es mir populäre Ergebnisse gibt – schönes Zitat aus dem Holman-Aufsatz: “They seem to give an idea of what the public is generally looking for in that topic range”. Ich bekomme also schnell relevante Ergebnisse und habe diese innerhalb von Millisekunden im Volltext vorliegen.

Unsere Informationskompetenz-Veranstaltungen nehmen auf die mentalen Modelle der Studierenden keine Rücksicht. Wir unterrichten Sorgfalt bei der Auswahl, Benutzung Boole’scher Operatoren und Erweiterter Suchen, üben (berufsethisch bedingte?) Zurückhaltung bei der Bewertung der Ergebnisse aus und werden nicht müde dabei zu betonen, dass nicht nur das relevant ist, was per Mausklick auf den Schirm zu zaubern ist, sondern vielleicht nur langwierig über Fernleihe beschafft werden kann. Die Erfahrungsberichte von BibliothekarInnen über die Benutzung von Summon in IK-Veranstaltungen zeigen, dass uns die neuen Tools aber zum Umdenken zwingen. In dem Aufsatz von Stefanie S. Buck mit dem Titel “The Impact of Serial Solutions Summon on Information Literacy Instruction Librarian Perceptions” kommen KollegInnen zu Wort, die festgestellt haben: Ich brauche beim Summon-Unterricht viel weniger Zeit für die Erklärung Boole’scher Operatoren und habe viel mehr Zeit dafür, mich mit der Analyse und Auswahl von Suchergebnissen zu beschäftigen – also das zu tun, mehr noch als die bloße Auswahl und Benutzung von Suchmaschinen den Kern der Informationskompetenz trifft. Und wenn Summon und Co. nicht reichen, zum Beispiel weil, wie in dem Artikel sehr stark bemängelt wird, die Eingrenzungsmöglichkeiten nicht ausreichen? Dann sind die Mängel des Tools eine hervorragende Gelegenheit, um Lust auf die anderen Werkzeuge zu machen – also die native MLA-Oberfläche zum Beispiel oder in Gottes Namen auch den herkömmlichen Katalog.

Und wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, können wir auch mit unseren bibliothekarischen Modellen von der Suche punkten. Wir müssen vorher aber zulassen, dass mit den Discovery-Tools zunächst ein Sucheinstieg gewählt wird, der die Komplexität der Suche dramatisch vereinfacht. In dem Aufsatz von Stefanie S. Buck kommt mehrfach das Wort “dumbing down” vor, und wer sieht, was im Zuge eines Mappings mit Metadaten geschieht, der weiß, dass da tatsächlich wichtige Erschließungsmerkmale verloren gehen können. Aber ich denke, die Herausforderung liegt darin, mit den Discovery-Tools Lust auf die Suche wissenschaftlicher Literatur zu machen und in den IK-Veranstaltungen möglichst viele Gelegenheiten zu erzeugen, das oft nur sehr vage mentale Modell der Studierenden von der Suche mit unserem Wissen zu verfeinern und auch neugierig auf Alternativen zu machen. Das funktioniert aber nur dann, wenn wir diese vagen mentalen Modelle und den pragmatischen Ansatz, dem sie entspringen, aufrichtig respektieren und nicht in besser oder schlechter differenzieren. Und genauso wie die NutzerInnen sollten wir auch versuchen, unser eigenes, möglicherweise ganz persönliches mentales Modell von der Suche zu reflektieren und weiter zu entwickeln.

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