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Discovery 2015: Von Monopolen, Egoismus, vuFind und mehr

Ein interessantes Jahr für das Thema Discovery geht zu Ende – eine Zusammenfassung in fünf Schlaglichtern:

  1. Monopole wachsen, offene Lösungen auch

Der Markt an kommerziellen Discovery-Lösungen konsolidiert sich: ProQuest schluckt ExLibris, und auch wenn Primo und Summon zunächst noch friedlich koexistieren sollen, wird angesichts dieser und anderer Übernahmen im bibliothekarischen IT-Markt deutlich, dass sich der Preis für Unabhängigkeit in Form von offenen Lösungen lohnen könnte. Mein Discovery-Oscar für 2015 geht vor diesem Hintergrund ganz klar an den Artikelindex des finc-Projektes – großer Applaus!

2. Egoismus ist gut

Ich erlaube mir, etwas weiter auszuholen: Es begab sich ca. 2007, die Idee zu beluga an der SUB Hamburg war gerade geboren und Kollege M.  installierte testweise „dieses vuFind-Ding“. Das ging recht schnell und problemlos,  aber es sprachen dennoch viele Gründe dafür, eine bestehende Eigenentwicklung, die im Kontext virtueller Fachbibliotheken entstanden war, zum Einsammeln und Verwalten von Metadaten bei beluga zu nutzen: Man hatte das nötige Know-How und wusste nicht recht, wie es mit diesem „vuFind-Ding“ weitergehen würde. Und tatsächlich konnten wir in dieser Frühphase des bibliothekarischen Discovery-Zeitalters unsere ganz eigenen Vorstellungen und vor allem die entstehenden Anforderungen in Eigenregie und also ohne Zuwarten auf eine unberechenbare vuFind-Community umsetzen.  Freiheit und Unabhängigkeit sind hohe Güter und erlaubten uns damals, eigene Schwerpunkte zu setzen.

Eine ungefähr ähnliche Motivation dürfte das Team um Gerald Steilen dazu angetrieben haben, in diesem Jahr eine selbst entwickelte Discovery-Lösung  – als Prototyp: UBfind an der UB Magdeburg – auf die Beine zu stellen. Wenn man schnell vorankommen will und eine starke eigene Vision hat, ist das eine Entscheidung, die egoistische Züge trägt, aber durchaus nachvollziehbar ist. Und tatsächlich ist der neue Prototyp hübsch anzuschauen und angenehm effizient gestaltet. Ich habe also durchaus Sympathien für solche „Alleingänge“ – in der Tat wurde mir selbst kürzlich vorgehalten, mit beluga oder auch der BibApp solche „Alleingänge“ durchgeführt und damit Egoismus an den Tag gelegt zu haben. Mit dem Vorwurf kann ich deswegen leben, weil ich weiß, dass beide Entwicklungen letztlich nicht nur den Bibliotheken genützt haben, an denen ich sie entwickelt habe, sondern auch viele andere direkt oder indirekt profitiert haben. Insofern: Egoismus ist gut.

3. Egoismus ist schlecht

Wieder kurz zurück zu der beluga-Geschichte: Nach Ende der Projektförderung stellte sich heraus, dass sich die Eigenentwicklung nicht unter den normalen Bedingungen weiter pflegen ließ, und so tauschte man den Motor aus – gegen eben jenes „vuFind-Ding“, was sich indessen bekanntermaßen zu einer weltweit genutzte Lösung gemausert hatte und gemeinschaftlich gepflegt und weiter entwickelt wird. Diese Gemeinschaftlichkeit ist ein Vorteil, wurde in den Augen des Teams aus der Göttinger Verbundzentrale zu einem Hemmschuh, u.a. weil das System zu kompliziert geworden sei und die resultierende Behäbigkeit den Umstieg auf zeitgemäße Bauteile schwer mache. Oliver Goldschmidt von der TU Hamburg-Harburg die Kritik von Gerald Steilen detailliert widerlegt, und auch bei beluga und an der Bibliothek der Hochschule Hannover setzt man weiterhin auf vuFind.

Aus meiner eigenen Erfahrung mit beluga würde ich ergänzen wollen, dass man mit Eigenentwicklungen schnelle Erfolge erzielen kann – wie nachhaltig diese sind, wird sich herausstellen, aber ich bin diesbezüglich besorgt. Bedauert habe ich auch, dass der Richtungswechsel bei der Discovery-Strategie nicht früher und breiter kommuniziert wurde – wenngleich ich den Wunsch, diesen Wechsel gleich mit der Vorstellung von etwas durchaus Vorzeigbarem zu verbinden, verstehen kann.  Wenn man aber „die Zielgruppe mitnehmen“ will, dann ist es unschön, diese überfallartig damit zu konfrontieren, dass das Pferd, auf das man jahrelang gesetzt hat, jetzt abgehalftert wird. Und ein wenig hatte ich bei der Lektüre der Folien zur Vorstellung der Eigenentwicklung auch den Eindruck, als habe man das Haar in der vuFind-Suppe unbedingt finden wollen. Wie kürzlich im beluga-Blog zu lesen war, setzen wir an der UB Lüneburg künftig auf vuFind (& die API von Summon). Die drastische Einschätzung zur Brauchbarkeit von vuFind kann ich nicht teilen, sondern glaube aus Erfahrung mit Entwicklung und Betrieb von Discovery-Systemen, dass die gemeinschaftliche Nutzung und Weiterentwicklung der Open-Source-Lösung vuFind der derzeit beste Weg ist. Alleingänge in Form von Eigenentwicklungen kann man sich leisten, aber es ist schade, dass ausgerechnet eine Verbundzentrale sich von dem Prinzip der gemeinschaftlichen Entwicklung trennt.

4. Discovery erzeugt “kognitive Dissonanzen”

Der Richtungswechsel der VZG hat meiner Einschätzung nach ziemlich viele Leute verwirrt – zumindest wenn ich meine Gespräche und Telefonate aus den letzten Wochen dazu Revue passieren lasse. Das ist deswegen schlecht, weil das Thema Discovery ohnehin verwirrend ist: Einerseits wissen oder ahnen wir, dass wir in Discovery investieren sollten, weil Katalog bzw. das traditionelle Ökosystem aus Katalogen und Datenbanken nicht mehr taugen, andererseits wissen wir auch, dass Discovery, so wie wir es jetzt kennen, nicht die abschließende Antwort ist, müssen aber gleichzeitig viel Geld und Aufwand hineinstecken, um uns dann wieder kurz über gestiegene Nutzungszahlen der E-Ressourcen zu freuen, bis uns dann wieder eine Studie sagt, dass sowieso alle bei Google Scholar anfangen… Um halbwegs ernsthaft eine Discovery-System zu betreiben, muss man sich damit anfreunden, dass die Lösung nicht perfekt ist. In der Folge muss man mit den Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit umgehen: sie frustriert ertragen, rechtfertigen, mit Engagement verbessern und uns immer wieder fragen, ob das alles richtig war oder ob man lieber noch mal neu anfangen sollte.  Zur Selbsthilfe und Erbauung: „Warum wir uns die Welt schönreden: Wie kognitive Dissonanz unser Leben bestimmt“.

5. Zu wenig Leute denken mit, und echte Probleme bleiben ungelöst

Die Beteiligung von KollegInnen aus Erwerbungs- und Katalogisierungsabteilungen an Discovery-Projekten ist nach wie vor zu gering, was u.a. auch zu der fehlenden Identifikation mit den Discovery-Systemen führt. Die Einführung eines Discovery-Systems hat aber durchaus das Potenzial, einen Beitrag zur Organisationsentwicklung einer Bibliothek zu leisten. Mehr dazu? Daniel Forsman, Bibliotheksdirektor der schwedischen Chalmers University, hat seine vormalige Katalogabteilung zu “Discovery and Delivery” weiterentwickelt und berichtet darüber in “Introducing agile principles and management to a library organization”.

Ich hätte Spaß daran, gemeinsam mit interessierten KatalogisiererInnen mal darüber nachzudenken, wie wir es schaffen können, dass Discovery-Systeme bessere Beiträge dazu leisten, die wirklichen Probleme von NutzerInnen zu lösen, also Use Cases zu lösem wie diese hier: „Ich hätte gern einen Übersichtsartikel zu Thema XY?“ oder „Welches Werk darf ich nicht vergessen, weil er quasi das Standardwerk ist?“. Eine schöne Übersicht über verschiedene Suchszenarien gibt es in der Präsentation „Designing the Next Generation of Search User Experience”. Mit Spannung wird zu erwarten sein, was ein Projekt wie LibRank bringt, das Kriterien wie Ausleihzahlen in die Ranking-Algorithmen einbeziehen will. Auch die diversen Altmetrics-Dienste haben irgendwie noch zu wenig mit Discovery zu tun – vielleicht bringt 2016 da Neues? Auf jeden Fall ist das Potenzial von Discovery-Systemen noch lange nicht ausgereizt, man denke nur an die in der Regel fehlenden bzw. nicht clever genug eingebundenen Normdaten. Vor ein paar Jahren haben wir angefangen, nach Bereitstellung der Daten als Linked Data zu rufen. Seit ein paar weniger Jahren stehen zumindest die DNB-Daten bereit, aber wirklich Nützliches  im Sinne von den genannten und anderen Use Cases passiert damit in den Discovery-Systemen bislang nicht. Mehr Pessimismus zu Linked Data gibt es bei Jonathan Rochkind in dem Artikel “Linked Data Caution” .

Und was kommt 2016, jetzt mal neben beluga 3.1? Auf Verbundebene hoffentlich erstmal die Erhebung von Schnittstellen wie DAIA und PAIA zu Standardleistungen des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (scnr). Und dann vielleicht eine hübsche Unterarbeitsgruppe zum Thema Discovery?

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