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Wozu Bibliotheken? – Über den freien Zugang zu Informationen und Bildungsräumen

Die Bibliotheksgeschichte ist eine Geschichte der Zäsuren, erwähnenswert sind unter anderem die Erfindung des Papyrus, der Buchdruck mit beweglichen Lettern, der digitale Katalog, das Internet, Wikipedia und das E-Book. Jede dieser Zäsuren scheint gewissen Personen Anlass zu geben, Bibliotheken als vom Aussterben bedrohte Orte zu identifizieren. So geschehen vor 11 Tagen durch Herrn Ball im Interview mit der NZZ. Die Reaktionen darauf haben nicht lang auf sich warten lassen (z.B. hier oder hier). Die Diskussion ist vielschichtig und doch bleiben manche Aspekte – so sehe ich das – unterbelichtet. Deshalb möchte auch ich eine Auslegeordnung in drei Akten versuchen: 1. Der Wert des gedruckten Buches, 2. der freie Zugang zu Informationen in Bibliotheken, 3. die Bibliothek als Bildungsraum. Mein Ziel ist es, bereits eingebrachte Argumente weitgehend auszuklammern und statt dessen neue Aspekte zur Diskussion hinzuzufügen.

Der Wert des gedruckten Buches

Das gedruckte Buch ist viel mehr als nur eine Wörterschlange auf Papier. Wer selbst ein Buch produziert hat, weiss, dass der fertige Text längst nicht alles ist. Die Kunst des Setzens, des Einbindens von Bildern und Grafiken, der Gestaltung ausgewogener, angenehm und schön anzusehender Seiten ist beachtenswert. In diesen Genuss kommt man nicht bei einem PDF, das im schlimmsten Fall auf dem Minidisplay eines Smartphones angezeigt wird. Und E-Books sinnvoll mit Blick auf ihre Usability und User Experience zu gestalten, ist ebenso viel Arbeit. Es stellt sich mir auch die Frage, ob ich den ganzen Tag geschirmte Texte lesen möchte, oder ob zwischendurch nicht vielmehr ein gedruckter Text mein Auge entspannt und den Geist beflügelt.

Bücher erzählen Geschichten – neben jener, für die sie geschrieben sind. Seien dies Griffelglossen in antiquarischen Beständen, Widmungen oder Anmerkungen von Vorbesitzer*innen. Wie schreibt man eine Widmung in ein E-Book?

Ein Argument möchte ich an dieser Stelle auch aushebeln: Die Behauptung, Bücher, die nicht ausgeliehen werden, wären überflüssig, ist falsch. Die Universitätsbibliothek Konstanz musste 2010 asbestbedingt einen Teil des Freihandbestandes in ein Magazin umziehen. Um das Magazin effizient nutzen zu können, wurden vor allem im vorderen Bereich der Lagerhalle Bücher untergebracht, die häufig ausgeliehen wurden. Es zeigte sich jedoch schnell, dass gerade die vormals nicht ausleihbaren Präsenzbestände nun häufig nachgefragt wurden. Über diese lagen – was der Natur der Präsenzbestände geschuldet ist – keine Ausleihzahlen vor. Ausleihzahlen sind in Freihandbibliotheken ein fehleranfälliger Maßstab. Und manchmal glaube ich, dass gerade die Bücher gelesen werden, die man nicht ausleihen kann – weil man sich in der Bibliothek die Zeit eingeplant hat, es wirklich zu tun, anstatt das Buch nach Hause und Wochen später ungelesen wieder zurück in die Bibliothek zu tragen.

Der freie Zugang zu Informationen

Nehmen wir einmal an, meine Argumente für das gedruckte Buch seien hinfällig. Man könnte also Bücher abschaffen. Kann man dann auch die Bibliothek als Ort abschaffen? Nein! Öffentliche Bibliotheken haben den Auftrag, Zugang zu „allen Arten von Wissen und Information“ zu ermöglichen (UNESCO Manifest von 1994). Es ist nicht nur vermessen, sondern geradezu arrogant zu behaupten, dass das Internet die Bibliothek überflüssig macht. Das ist eine Perspektive, die man sich nicht einmal in einem reichen, hoch-digitalisierten Land wie der Schweiz erlauben kann. Nicht jede*r hat Zugang zum Internet und besitzt die passenden Endgeräte – ganz zu schweigen von den Informationskompetenzen, die erforderlich sind, um vernünftig zu recherchieren. Und das trifft bei weitem nicht nur bildungsferne Schichten! Auch Studierende sind in ihrer Google-Suche-Sozialisation gefangen.[1]

Bibliotheken tragen einerseits mit PC-Pools, frei zugängliches WLAN und der Verleih von E-Book-Readern zur Verringerung der ‘digitalen Kluft’ bei zwischen jenen, die sich diese Geräte und Infrastruktur leisten können und jenen, die dies nicht können. Andererseits vermitteln sie die notwendigen Informationskompetenzen, um diese Angebote auch nutzen zu können.

Die Bibliothek als Bildungsraum

Ja, das Argument von der „Bibliothekstapete“ ist beliebt. Bücher als Kulisse quasi (siehe dazu auch diesen Blogpost). Eine Bibliothek bietet ein bestimmtes Environment Behavior Setting, also eine Umgebung, die ein bestimmtes Wahrnehmungshandeln im Sinne einer Interaktion mit Dingen und anderen Personen hervorruft. Meine empirischen Untersuchungen zeigen, dass wir je nach unseren Bedarfen bestimmte Bereiche einer Bibliothek bevorzugen: Recherche, Lektüre, Bearbeitung der Rechercheergebnisse, Diskussion, Präsentation und Kontemplation sind zentrale Aktivitäten in Bibliotheken. Und zukunftsweisende Bibliotheken bieten dafür entsprechende Raumkonzepte an.

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Vier verschiedene Raumkonzepte in der Social Science Library in Oxford (eigene Fotografie, 2010)

Das wiederum führt dazu, dass Arbeitsplätze in Bibliotheken von den Nutzer*innen angeeignet werden und für diese Personen mit einer bestimmten Bedeutungszuschreibung verbunden sind. Für bestimmte Arbeiten suchen sich Lernende Plätze in „ihrem“ Buchbereich aus. Dazu gehört auch, dass man die Bestände nutzten kann und nicht nur vor einer Tapete sitzt. Die von mir befragten Personen suchen diese Plätze immer wieder auf, betrachten sie als ihre professionellen Arbeitsplätze und wissen, dass sie von den Menschen auf benachbarten Plätzen vermisst würden, wenn sie nicht zum Arbeiten bzw. Lernen erscheinen würden. So entstehen Arbeitsroutinen, die gerade für Studierende und Promovierende (wie beispielsweise jene der ETH-Bibliothek) von zentraler Bedeutung sein können.

Mit der Kopräsenz anderer Personen sind Verhaltensregeln verbunden, wie etwa das Gebot des Schweigens. Bibliotheken sind vorwiegend Orte des schweigsamen Lesens und Arbeitens, die soziale Kontrolle der Gemeinschaft kann sich positiv auf das Konzentrations- und Durchhaltevermögen auswirken.

 

Abschließend möchte ich betonen, dass die Aufgaben der Bibliothek immer vielfältiger und herausfordernder werden: Es müssen Bibliotheken gestaltet werden, die den Menschen ins Zentrum rücken. Was soll in diesen Räumen möglich sein? Welche Bedarfe haben unsere Zielgruppen? Wie können wir diese optimal unterstützen und welche Angebote wollen wir schaffen – materiell, virtuell und vor allem sozial.

 

Quellen

Eva-Christina, 2014: Die Bibliothek ist kein Museum. Die Vernetzung und Gestaltung von Wissensräumen als Aufgabe öffentlicher Büchereien im digitalen Zeitalter. Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 09.04.2014, S. 13.

Edinger, Eva-Christina, 2016: Besucher? Nutzer? Kunde? – Mensch! Raumsoziologische Perspektiven auf Bibliotheksgestaltung im Sinne des Human Centered Design. In: Arnold, Rolf et al. (Hg.), Lernarchitekturen und (Online-) Lernräume, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 89-116.

UNESCO (1994) Öffentliche Bibliothek. Manifest der IFLA/UNESCO 1994.


[1] Vgl. Edinger, Eva-Christina, 2016: Besucher? Nutzer? Kunde? – Mensch! Raumsoziologische Perspektiven auf Bibliotheksgestaltung im Sinne des Human Centred Design. In: Arnold, Rolf et al. (Hg.), Lernarchitekturen und (Online-) Lernräume, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 89-116.
 
 
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