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Workshop zu „Mental Maps“ als Datenmaterial in der kulturwissenschaftlichen Raumforschung

Konzept und Kurzbericht

Mental Map OX (2010) 2

Mental Map OX (2010) 2

Letzten Donnerstag (07.04.2016) war ich zu Gast am Universitären Forschungsschwerpunkt „Sprache und Raum“ der Universität Zürich, um einen halbtägigen Workshop zu Mental Maps zu leiten. In der Vorbereitungsphase war ich auf der Suche nach Lehrmaterialien zu Mental Maps, nach Konzepten und Anregungen, bin jedoch kaum fündig geworden. Deshalb möchte ich in den folgenden Zeilen nicht nur inhaltlich berichten, sondern auch mein Konzept vorstellen. Eine kleine Literaturliste zur Empfehlung findet sich am Ende des Blogposts.

Konzept
Der Workshop führt in die Erhebung, Auswertung und Ergebnisnutzung von Mental Maps (MM) im Kontext der kulturwissenschaftlichen Raumforschung ein. Der Workshop ist in eine Input- und eine Arbeitsphase gegliedert. Die Inputphase ist als frontales Vortragssetting gestaltet, in der Arbeitsphase wird in Kleingruppen gearbeitet, die jeweiligen Ergebnisse werden im Plenum diskutiert.

Ziele:

  • TN lernen Einsatzmöglichkeiten, Auswertungs- und Erhebungsmethoden von Mental Maps kennen
  • TN erhalten Einblicke in konkrete Forschungsprojekte, die mit Mental Maps arbeiten
  • TN wenden ihre Kenntnisse praktisch an:
    • Gemeinsame Auswertung von Mental Maps
    • Gemeinsame Konzeption eines Erhebungsinstruments für Mental Maps
  • TN lernen Chancen, Risiken und mögliche Herausforderungen beim Einsatz von Mental Maps kennen

Ablauf:

  • Die Einstiegs- und Kennenlernphase gestaltete ich mit der Methode „Lebendige Statistik“ – passend zum Thema
  • Die Inputphase umfasste einen allgemeinen, einführenden Vortrag von mir, der einen Überblick über die Methodenvariationen zur Erhebung und Auswertung von Mental Maps bietet, anhand von meinem eigenen empirischen Material aus meiner Bibliotheksforschung. Darüber hinaus konnten wir Philipp Stöckle für einen Vortrag zu seiner Arbeit mit Mental Maps in der Ethnodialektologie gewinnen.
  • In der Arbeitsphase wurden zunächst in zwei Runden á 30 Minuten zwei Mental Maps in Kleingruppen analysiert und die Ergebnisse im Plenum vorgestellt. Darauf folgte – ebenfalls in Kleingruppen – eine Runde á 30 Minuten zur gemeinsamen Konzeption eines möglichen Erhebungsinstrumentes für Mental Maps („Aufforderung zum Zeichnen einer Karte“)
  • Den Abschluss bildete eine Diskussion zu Chancen und Risiken der Arbeit mit Mental Maps sowie eine kurze Blitzlichtrunde.

Kurzbericht
Mental Maps sind spontan gezeichnete Karten in der Funktion empirischer Daten. Sie stellen eine visuelle Darstellung (ggf. verbal angereichert) von (Orts-)Relationen dar, indem sie die subjektive Wahrnehmung, Erinnerung oder Vorstellung von Räumen abbilden (im Sinne des relationalen Raumbegriffes nach Löw, 2001). Sie sind immer situativ, kontextabhängig, verzerrt und nicht erschöpfend. Karten sind nie objektiv. Das gilt es auch zu beachten, wenn wir datentriangulativ vorgehen würden, d.h. Mental Maps und Stadtpläne, Grundrisse etc. gemeinsam nutzen. Wichtig ist, den Entstehungskontext von Karten/Plänen etc. zu berücksichtigen: Mental Maps sind Dokumente, die geprägt sind von Autor*in, Adressat*in, Funktionalität/Zielsetzung. Karten sind immer auch Machtinstrumente (Vermessung von Herrschaftsbezirken).

Das Zeichnen von Karten sowie auch das Lesen ist voraussetzungsvoll, Abstraktions-, Selektions- und Reduktionsleistungen sind zu erbringen. Das Verständnis von Karten ist nicht intuitiv, die gewählte Symbolik nicht universell verständlich. Die Symbolik folgt Darstellungskonventionen und der ‚Karten-Sozialisation‘ der zeichnenden Person. Im Rahmen des Workshops wurde dies bei zwei diskutierten Karten deutlich anhand der Darstellung von Hügeln bzw. Bergen. Nicht alle Teilnehmenden haben die entsprechenden Darstellungen erkannt, bis eine Teilnehmerin bemerkte, dass sie in der Schule gelernt hätte, Berge so zu zeichnen und diese deshalb auf der Karte als solche identifiziert.

Bildmaterial wie Mental Maps kann in der raumwissenschaftlichen Forschung immer mehrere Funktionen haben:

  • Darstellung/Illustration von Forschungsergebnissen: Hier habe ich bei der alleinigen Verwendung große Bedenken, wenn Datenmaterial genutzt wird, um vorgefertigte Ergebnisse zu „illustrieren“ – es sollte bei empirischer Forschung ja anders herum sein. Mental Maps sollten nicht alleine zur Visualisierung erhoben werden, dann verlieren sie ihren Status als eigenständiges Datenmaterial.
  • Visualität/Sichtbarkeit/Fixierung von visueller Wahrnehmung:  Mental Maps halten die Perspektive des/der Zeichnenden fest.
  • Sichtbarmachung: Mental Maps machen Praxis sichtbar, beispielsweise Orientierungspraxis in Bibliotheken.

Im Rahmen meiner Dissertation zur Untersuchung von Hochschulbibliotheken aus raumsoziologischer Perspektive habe ich Mental Maps in verschiedenen Varianten erhoben:

  • Mental Map KN Neulinge-2010 1

    Mental Map KN Neulinge (2010) 1

    Eine Gruppe von Erstnutzer*innen wurde nach dem ersten Besuch einer Bibliothek gebeten, eine Karte zu zeichnen. Zeichnen in zwei Schritten: Erstens: Zeichnen aller erinnerten Räume und Begebenheiten, zweitens: Einzeichnen des Weges, der während der Führung gegangen wurde (vgl. Abbildung KN Neulinge 2010 1).

  • Eine Gruppe Studierende wurde aufgefordert, zunächst eine bestimmte Route abzugehen und anschließend eine Karte der Bibliothek und der gegangenen Route zu zeichnen. Hier von Vorteil: Routinierte Besucher*innen werden in einem bekannten Raum auf eine unbekannte Route geschickt (vgl. Abbildung KN Studierende 2010 2).

    Mental Map Konstanz Studierende 2 (2010)

    Mental Map Konstanz Studierende (2010) 2

  • Im Rahmen von Leitfadeninterviews sollten angesprochene Räume in einer Mental Map visualisiert werden im Sinne eines „Doing Illustration“ (Berndt/Stegmaier 2010) (vgl. Abbildung Ox 2010 2, ganz oben im Artikel).
  • In der Vorbereitung von Einzelinterviews wird eine Karte gezeichnet, danach wird die Karte im Interview von der interviewten Person vorgestellt und es können Rückfragen gestellt werden (vgl. Abbildung Studierende 2015 5).

    Studierende 2015 5

    Mental Map Studierende (2015) 5 – erhoben von meinen Studentinnen Katz/Speh

Je nach Erhebungskontext variieren die Karten in ihren Darstellungsebenen, Darstellungsformen und ihrer Granularität.

Für die Auswertung bestehen unterschiedliche Zugänge (die Liste ist nicht erschöpfend):

  • Inhaltsanalyse
  • Sequenzanalytisch im Sinne der objektiven Hermeneutik
  • Quantitative Auswertung, z.B. auch mit der Hilfe von GIS
  • Mein Vorgehen: Zunächst Einteilung in Bereiche (die je nach Fragestellung überlappend sein können, das ist der relationalen Raumdefinition geschuldet), diese Bereiche werden inhaltsanalytisch ausgewertet, bei Bedarf einzelne Bereiche darauf hin ausgewertet, wie etwas dargestellt ist, dazu lassen sich theoretisch konstruierte und ggf. native Codes einsetzen.

Von der Vorbereitung des Workshops an wurde deutlich, dass die Begriffe, unter die Mental Maps fallen, changieren. Es gibt keine allgemeingültige Definition, die in allen Disziplinen, die Mental Maps nutzen, einheitlich verwendet würde. Peter Gould und Rodney White (1974) stellen in ihrem als klassisch zu bezeichnenden Werk unter „Mental Maps“ eine Vielzahl von möglichen Karten vor, die andernorts unter ganz andere Begrifflichkeiten fallen können. Helfferich (2014) stellt beispielsweise in ihrem einführenden Lehrbuchtext Begriffe für dieses Methodencluster vor wie: Mental Map, Narrative Raumkarte, Subjektive Landkarte und Stegreif-Skizze. Langenohl (2005) bietet darüber hinaus einen Überblick über die begriffliche Diskussion auch in der Kognitionspsychologie, die beispielsweise auch den Begriff der Cognitive Maps nutzt. Darüber hinaus kommen in Stadtforschung und -entwicklung Varianten zum Einsatz, die unter Begriffe wie „participatory mapping“ gefasst werden. Einen ersten Literaturüberblick bietet meine kleine kommentierte Literaturliste:

EDINGER WS Mental Maps komm Litliste

Ungeachtet der begrifflichen Vielfalt und der Pluralität der Erhebungs- und Auswertungsmethoden hat sich im Workshop gezeigt, dass insbesondere die qualitative Auswertung der Mental Maps von (interdisziplinären) Auswertungsgruppen profitiert, nur so können eine Fülle an möglichen Lesarten, Darstellungskonventionen und Symboliken aufgezeigt und auf ihre Gültigkeit hin diskutiert werden.

Quellen:
Berndt, Thorsten und Stegmaier, Peter, 2010: Dual sensitivities. Organizing Ethnography in the Judge’s Office. Konstanz (unveröffentlichtes Manuskript).
Gould, Peter und White, Rodney, 1974: Mental Maps. Harmondsworth: Penguin Books.
Helfferich, Cornelia, 2014: Mental Maps und Narrative Raumkarten. In: Bischoff, Christine; Oehme-Jüngling, Caroline und Leimgruber, Walter (Hg.), Methoden der Kulturanthropologie, Bern: Haupt Verlag. S. 241-256.
Langenohl, Andreas, 2005: Mental maps, Raum und Erinnerung. Zur kultursoziologieschen Erschließung eines transdisziplinären Konzepts. In: Damir-Geilsdorf, Sabine; Hartmann, Angelika und Hendrich, Béatrice (Hg.), Mental Maps – Raum – Erinnerung, Münster: Lit Verlag. S. 51-69.
Löw, Martina, 2001: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sollten auch Sie Interesse an einem solchen Workshop oder einem Vortrag haben, sprechen Sie mich an!
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