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Ausleihregeln für das 21. Jahrhundert

Die Ausleihzahlen sinken allerorten, dennoch ist dieser Service nach wie vor eine Kern-Dienstleistung und wohl kaum vom Aussterben bedroht. Lohnt es sich, über Ausleihregeln nachzudenken? Angefangen hatte ich damit bereits vor zwei Jahren, aber aus Anlass einer Diskussion über Handapparate – sprich: Ausleih-Privilegien für wissenschaftliche Mitarbeiter – habe ich mich mit ein paar vorlauten Bemerkungen in Handlungszwang gebracht und die Gedanken von damals noch mal aufgegriffen, wohl wissend, dass das ein Fass ist, von dem man sich gut überlegen muss, ob man den Deckel nicht besser darauf belässt.

Es gibt zu dem Themenkomplex „Ausleihe, Leihfristen, Mahnungen“ relativ wenig Literatur – was wenig überraschend ist, wo es doch so viele attraktive neue bibliothekarische Tätigkeitsbereiche gibt. Aber genau durch diese neuen Themen haben sich die Rahmenbedingungen für die Ausleihe auch geändert: Verlängerte Öffnungszeiten machen Kurz- oder Nachtausleihen überflüssig, die Verfügbarkeit von vielen E-Books reduziert die Bedeutung von Lehrbuchsammlungen, kostenlos bereitgestellte Scanner erleichtern die Nutzbarkeit von stark nachgefragten Titeln.  Damit kann man sinkende Ausleihzahlen gut erklären, aber ich unterstelle auch, dass es ein zentrales Interesse von Bibliotheken ist, diese Zahlen weiterhin hoch zu halten, denn sie unterstreichen die die Relevanz des Bestandes und der Einrichtung Bibliothek allgemein.

Daher möchte ich zwei Thesen zur Überarbeitung von gängigen Ausleihpraktiken zur Diskussion stellen.

These 1: Die Standard-Leihfrist muss verlängert werden

Beschaut man sich die Ausleihzahlen genauer, zum Beispiel über die DBS, fällt der hohe Anteil von Verlängerungen ins Auge. Wenn jemand also ein Buch gefunden hat, scheint es vielfach erstrebenswert zu sein, dieses so lange wie möglich zu behalten. Darauf haben einige Bibliotheken bereits reagiert, beispielsweise die ETH-Bibliothek, die Bibliothek der Hochschule Sankt Gallen oder die UB Dortmund . Hier wird ein entliehenes Buch automatisch verlängert, sofern keine Vormerkung vorliegt – im Falle der Hochschule Sankt Gallen bis einer Leihfrist von sechs Monaten. Die Regelungen dafür, wie mit einer Vormerkung umgegangen wird, variieren – in Dortmund zum Beispiel erhält man bei vorliegender Vormerkung nach der ersten Leihfrist eine Rückgabeaufforderung, nach der das Buch innerhalb von fünf Tagen zurückgegeben werden muss.

Längere Leihfristen für die Statusgruppe Studierende würden die erheblichen Unterschiede zu den Privilegien der wissenschaftlichen Mitarbeiter verringern. Sie führen auch offenbar nicht zu Plünderungen des Print-Bestands oder steigenden Verlusten, wie US-amerikanische Erfahrungen zeigen (Reed 2014). Sie werden sicherlich abschreckend für diejenigen sein, die Interesse an einem ausgeliehenen Buch haben und feststellen, dass dieses noch viele Wochen entliehen sein wird – sofern wir keine guten Möglichkeiten haben, in der Anzeige von Suchsystemen über die Rückruf-Möglichkeiten  zu informieren. Aber die längeren Leihfristen entsprechen der tatsächlichen Nutzung unserer Bestände, und sie ersparen die Aufwände dafür, rechtzeitig an Verlängerungen zu denken oder Bittbriefe an die Bibliothek zur ausnahmsweisen fünften Verlängerung wegen Urlaubs o.ä. zu schreiben, mit denen jede Mitarbeiterin, die die entsprechenden Anfragen bearbeitet, ihr Büro tapezieren kann.

 

These 2: Die gebührenpflichtigen Mahnungen müssen erheblich reduziert werden

Mahnungen machen Ärger und belasten das Verhältnis von Bibliothek und Nutzer_innen. Es gibt Fälle, in denen sie nötig sind – im Falle einer nicht-beachteten Rückgabeaufforderung zum Bespiel, und sicherlich auch für Fernleihen. Es wird trotzdem Menschen geben, die Mahnungen in Kauf nehmen, um ein Buch länger zu behalten – von diesen Abwägungen wissen alle, die an Ausleih- oder Informationstheken arbeiten. Aber sind kostenpflichtige erste Mahnungen für nicht-vorgemerkte Titel nicht verzichtbar bzw. durch freundliche Erinnerungsschreiben zu ersetzen?

Fatalerweise spielen die Einnahmen durch Mahngebühren für viele Bibliotheken eine wichtige Rolle. Der Wegfall dieser Einnahmequelle hat ernste Konsequenzen und dürfte der Hauptgrund sein, warum über den Wegfall der Mahngebühren nicht mehr diskutiert wird. Ich erinnere mich an eine Geschichte aus einer Bibliothek, in der sich die Leitung gegen die Einführung von Erinnerungsmails zum Leihfrist-Ende sträubte, um keine Einnahmen  zu verlieren. Was also erst, wenn die Mahnungen zum größten Teil wegfielen? Wiederum aus US-amerikanischen Bibliotheken wird berichtet, dass man mit Einbußen zwischen 30-50% rechnen muss (Boyce 2014, Reed 2014).

Spaßeshalber habe ich einmal berechnet, ob man diese Einnahmen refinanzieren kann, wenn man der Argumentation von (Boyce 2014) folgt und davon ausgeht, dass sich die Fälle von Buchersatz und Leistungsbescheiden durch Abschaffung der Mahngebühren drastisch reduzieren. Ich bin dabei dann auf 0,4 VZÄ E6 pro Jahr gekommen – großzügig kalkuliert. Könnte fast hinkommen, zumal wenn man die Aufwände für die normalen Mahnungen noch hinzunähme.

Aber: Es geht nicht an, dass man sich Selbstverständnis von einer Bibliothek, die mit ihren Nutzer_innen auf Augenhöhe agiert, nur dann leisten kann, wenn man auf die Einnahmen verzichten könnte.

In having any reliance on fine revenue to cover operating costs, [the library] would be tacitly supporting student failure. (Reed 2014)

Es wird nicht leicht sein, die Dysfunktionalität der Mahngebühren aufzulösen, ohne in andere Probleme zu schlittern. Vielleicht brauchen wir einen Diskurs mit unseren Hochschulleitungen darüber, wenn wir das Finanzierungsdilemma aus dem Weg bringen wollen. Vielleicht aber auch einfach nur etwas Mut und Zutrauen zu einer Idee, eine heilige Kuh wenn nicht zu schlachten dann doch zu hinterfragen?

 

Literatur

Boyce, Crystal (2014): Practice Makes Perfect. Updating Borrowing Policies and Practices at a Small Academic Library. In: Journal of Access Services 11 (4), S. 282–297. DOI: 10.1080/15367967.2014.945119.

Fallon, Claire (2017): Libraries Are Dropping Overdue Fines — But Can They Afford To? Online verfügbar unter https://www.huffingtonpost.com/entry/libraries-are-dropping-overdue-fines-but-can-they-afford-to_us_5913733ae4b0b1fafd0dccc2.

Kang, Qi; Wang, Pianran; Wang, Qing (2017): The state of circulation policies and practices in Chinese academic libraries. In: Journal of Librarianship and Information Science, 0961000617742454. DOI: 10.1177/0961000617742454.

Reed, Kathleen; Blackburn, Jean; Sifton, Daniel (2014): Putting a Sacred Cow Out to Pasture. Assessing the Removal of Fines and Reduction of Barriers at a Small Academic Library. In: The Journal of Academic Librarianship 40 (3), S. 275–280. DOI: 10.1016/j.acalib.2014.04.003.

Sung, Jan S.; Tolppanen, Bradley P. (2013): Do Library Fines Work? Analysis of the Effectiveness of Fines on Patron’s Return Behavior at Two Mid-sized Academic Libraries. In: The Journal of Academic Librarianship 39 (6), S. 506–511. DOI: 10.1016/j.acalib.2013.08.011.

Weidlich, Nina (2017): Buch vergessen? In diesen Uni-Bibliotheken wird das richtig teuer. Online verfügbar unter https://www.unicum.de/de/studentenleben/geld-finanzen/buch-vergessen-in-diesen-uni-bibliotheken-wird-das-richtig-teuer.

Wilson, Duane (2014): Why Can’t They Keep the Book Longer and Do We Really Need to Charge Fines? Assessing Circulation Policies at the Harold B. Lee Library. A Case Study. In: Journal of Access Services 11 (3), S. 135–149. DOI: 10.1080/15367967.2014.914815.

 

 

 

 

 

 

 

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