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Bibliothekarische Stimmen. Independent, täglich.

“Should I stay or should I go?”*

*The Clash, 1981.

Vortrag zu widersprüchlichen Environment-Behaviour-Settings in Lernumgebungen

In den letzten Jahren hatte ich das Vergnügen, viele neu gestaltete Bibliotheken und Lernumgebungen zu besuchen. Vergnügen deshalb, weil sich in dieser Zeit viel getan hat in der Bibliotheks- und Lernraumgestaltung. Es sind Räume entstanden, die sowohl in ihrer materiellen Gestaltung als auch den intendierten sozialen Settings von Lehren und Lernen eine grosse Varianz aufweisen. – Leider werden die Räume häufig aber nicht in der Weise genutzt, wie es möglich wäre.

Die Gründe dafür können in den Environment-Behaviour-Settings gefunden werden: Diese sind zuweilen in sich widersprüchlich gestaltet, sodass sich den Nutzer*innen nicht erschliesst, welches Verhalten eigentlich vorgesehen ist. Sie wissen nicht, ob das, was sie tun möchten (oder bereits tun) opportun ist oder ob sie sich dafür einen anderen (Lern-)Ort suchen sollten.

Prezi: „Should I stay or should I go“, März 2018


In meinem Vortrag am 02.03. konnte ich im Rahmen der Tagung „Lernwelt(en) & Rauminszenierungen – Gestaltung  räumlicher Arrangements für Lernen“ der AG Erwachsenenbildung und Raum das Themenfeld der Environment-Behaviour-Settings von zwei Seiten beleuchten:

  • Theoretisch: Wie passen der relationale Raumbegriff von Martina Löw, Pierre Bourdieus „Ortseffekte“, Lars Frers‘ „Wahrnehmungshandeln“, Bruno Latours ANT sowie die Environment-Behaviour-Settings von Roger Barker zusammen?
  • Empirisch: Warum klappt das mit lauten und leisen Arbeitsbereichen nicht immer und warum ist nicht immer klar, wo man in Gruppen lernen darf und wo nicht?

Im Folgenden möchte ich die theoretische Seite ausführen.

Die Raumsoziologie liefert mit der relationalen Definition von Raum eine belastbare Antwort darauf, was Raum ist (Löw, 2001). Die Dualität von Struktur und Handeln von Anthony Giddens (1988) lässt sich – auch wenn Giddens das so nicht explizit macht – als Dualität von Raum und Handeln konkretisieren, d.h Raum und Soziales konstituieren sich wechselseitig. Zu fragen ist jedoch, wie das genau funktioniert.

Pierre Bourdieu illustriert in den feinen Unterschieden, dass wir in unserer gebauten Umwelt den sozialen Raum reproduzieren bzw. materialisieren. Er tut dies beispielsweise anhand von Einrichtungsgegenständen: In unserer Wohnungseinrichtung drückt sich unsere Position im sozialen Raum aus. Das Soziale wirkt also auf den Raum. Und umgekehrt?

Aus meiner eigenen stadtsoziologischen Forschung kenne ich das Phänomen, dass sich „Defizite im städtebaulichen Erscheinungsbild“[1] auf das Wahrnehmen des eigenen Umfeldes sowie das Verhalten in diesem Umfeld auswirken. Zumindest in Bezug auf die Wahrnehmung des eigenen Umfeldes konnten wir ähnliches feststellen im Rahmen des Lehrforschungsprojektes „Raum-Expedition: Konstanz“.

„Das Stigma, mit dem ein Quartier in der Außenbeurteilung belegt wird, heftet sich an seine Bewohner […] Die Außensicht wirkt auf die Binnenperspektive der Bewohner zurück.“[2] Hierin bestätigen sich Beobachtungen von Pierre Bourdieu (1997), die er treffend „Ortseffekte“ nennt.

Gibt es nun, jenseits der Subjektivität der Raumkonstitution sowie dieser Binnenperspektive auch eine raumbezogene typische Handlung bzw solche Räume, die bei einer Mehrheit oder einer bestimmten Personengruppe ein bestimmtes Handeln hervorbringen?

Lars Frers versucht dieser Frage mit seinem Konzept des Wahrnehmungshandelns auf den Grund zu gehen: Wir sind leiblich in der Welt und nehmen immer erstens synästhetisch (also alle Sinne betreffend) wahr und zweitens immer handlungsbezogen. „In ihrem Wahrnehmungshandeln interagieren die Menschen mit ihrer Umgebung, gehen auf Dinge und Andere ein […].“ (Frers 2007, S. 52)

Diese Überlegungen sind vergleichbar mit jenen aus der Sozialpsychologie der 1960er: Die sogenannten Environment Behaviour Studies, deren bekanntester Vertreter vermutlich Roger Barker ist, suchten nach Verhaltensmustern in vergleichbaren Umgebungen, sogenannten „patterns of behavior-and- milieu“. Aus diesen Verhaltensmustern entwickelten sie Environment-Behaviour- Settings, die wiederum Umweltsituationen beschreiben, die intersubjektiv ein bestimmtes Verhalten mit sich bringen,

Man könnte auch – im Sinne der Akteur-Netzwerk- Theorie nach Bruno Latour (1995) – argumentieren, dass die gebaute Umwelt als Akteur fungiert und uns zu einem bestimmten Verhalten leitet.

Was heisst das nun für die Praxis? Einerseits sollten wir mehr über Environment-Behaviour-Settings wissen! In welchen Raumstrukturen tendieren wir beispielsweise dazu zu schweigen, in welchen würden wir eher eine Unterhaltung beginnen? Welches Mobliliar regt uns dazu an, uns für Gruppenarbeiten niederzulassen, wo hingegen würden wir das gar nicht erst versuchen?

All Souls Library klein

Codrington Library, Oxford (2010, eigene Fotografie)

Andererseits sollten wir ganz genau hinschauen, wenn Biblitheksräume nicht in der vorgesehenen Weise genutzt werden. Bruno Latour nennt dies „Reversibles Blackboxing“. Ziel ist es, in der materiellen Gestaltung der Dinge die unterschiedlichen sozialen Aufforderungen zu erkennen. Wie beispielsweise in einer Bodenschwelle die Aufforderung zum Langsamfahren eingebaut ist, so ist in manchen Biblithekssettings die Aufforderung zum Schweigen materialisiert. Beinhalten diese Settings nun aber zugleich auch Aufforderungen zur Kommunikation, dann haben wir es mit widersprüchlichen Environment-Behaviour-Settings zu tun und müssen uns nicht wundern, wenn man einer Person nicht klar ist, ob ein bestimmtes Verhalten erwünscht ist oder nicht.


[1] Ritterhoff, Frank und Volkmann, Anne, 2014: Quartierseffekte – Forschungsstand, politische Verankerung und Perspektiven. In: Altrock, Uwe; Huning, Sandra; Kuder, Thomas, et al. (Hg.), Zielgruppen in der räumlichen Planung. Konstruktionen, Strategien, Praxis, Berlin: Verlag Uwe Altrock. S. 273-294. S. 276.

[2] Cain, Friedrich; Huss, Emilia; Raggenbass-Malloth, Carin, et al., 2011: Randbemerkungen: Positionen im Berchengebiet und in den Öhmdwiesen.

Literatur

Barker, R. (1968 ). Ecological Psychology: Concepts and Methods for Studying the Environment of Human Behavior. Stanford, Stanford University Press.

Bourdieu, P. (1997). Ortseffekte. Das Elend der Welt. P. Bourdieu. Konstanz, UVK Universitätsverlag Konstanz: 159-168.

Bourdieu, P. (2007). Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Frers, L. (2007). Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals. Bielefeld, transcript.

Giddens, A. (1988). Die Konstitution einer Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie. Frankfurt am Main, Campus.

Latour, B. (1995). Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin, Akademie Verlag.

Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Newman, O. (1996). Creating Defensible Space, U.S. Department of Housing and Urban Development. Office of Polica Development and Research.

Wilson, J. Q. and G. L. Kelling (1982). „Broken Windows. The police and neighborhood safety.“ The Atlantic Monthly.

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