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Bibliothekarische Stimmen. Independent, täglich.

3. Juli 2017
von Eric W. Steinhauer
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Fundstück: Btx und Politik

Von 1983 bis 2001 gab Bildschirmtext (Btx). Als Vorform des Internet ist Btx hochinteressant, wird aber bislang kaum beforscht. Dabei können gerade die Visionen und Vorstellungen, die mit der damals noch neuen Technologie verbunden wurden, für die Art und Weise, wie das Internet konzeptionell verstanden wird, äußerst fruchtbar sein. Nicht selten wird man feststellen, dass Konzepte der 80er Jahre, die im Zusammenhang mit Btx entwickelt worden sind, erst mit dem Internet technisch und sozial Wirklichkeit werden konnten.

Aktuell werden gerade die Sozialen Medien als Erscheinungsform des Web 2.0 in ihren Auswirkungen auf die Politik, die Demokratie und die öffentliche Meinung kritisch diskutiert. Alternative Fakten und Fake News mögen als Stichworte genügen.

Dabei ist das Problem alles andere als neu. Bereits im Kontext von Btx wurden die Auswirkungen vernetzter Online-Medien auf demokratische Prozessse thematisiert. Im Unterschied zu den heute vorgeschlagenen Änderungs- oder Löschpflichten fraglicher Inhalte war der Ansatz früher erheblich radikaler.

Die Rede ist von Art. 11 Abs. 1 des Staatsvertrages über Bildschirmtetxt (Bildschirmtext-Staatsvertrag) vom 18. März 1983. Er lautet:

"Meinungsumfragen mittels Bildschirmtet über Angelegenheiten die in des gesetzgebenden Organen des Bundes, der Länder, in den entsprechenden Organen der Gemeinden, der sonstigen kommunalen Gebieskörperschaften, in den Bezirksverordnetenversammlungen oder Bezirksversammlungen behandelt werden, sind unzulässig. Die Ergebnisse von Meinungsumfragen mittels Bildschirmtext bei den einzelnen Teilnehmern über deren Wahl- oder Stimmverhalten, die sechs Wochen vor der Wahl oder Abstimmung nicht veröffentlicht sind, dürfen vor der Wahl oder Abstimmung nicht bekanntgemacht werden."

Aufschlussreich ist die Begründung zu diesem Artikel:

"Art. 11 enthält Sonderbestimmungen für Meinungsumfragen mittels Bildschirmtext, da diese mit diesem Medium einerseits leicht und schnell durchgeführt werden können, andererseits aber besonders fehleranfällig sein können. Sie unterscheiden sich insofern besonders grundlegend von den bisher allgemein üblichen repräsentativen Meinungsumfragen durch Meinungsforschungsinstitute. Abs. 1 soll dabei den aus einer schrankenlosen Durchführung solcher Meinungsumfragen durch jedermann folgenden Gefahren für die repräsentative Demokratie mit der Entscheidungsfreiheit insbesondere der parlamentarischen Organe sowie der Gefahr der Manipulation von Wahlen Rechnung tragen."

Ein Verstoß gegen das Umfrageverbot konnte nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 6 des Btx-Staatsvertrages als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.

(Quelle: Hessischer Landtag, Drucksache 10/642 vom 24. März 1983)

BTx war übrigens nie ein Massenmedium. Erst mit der Kopplug von Btx und Internet im Jahre 1995 wurde mehr als 1 Millionen Teilnehmer gezählt (vgl. Wikipedia). Gleichwohl ist die Problembeschreiung des Staatsvertrages bemerkenswert und steht beispielhaft für viele Fragestellungen, die im Zusammenhang mit Btx aufgeworfen, aber erst 30 Jahre später im Internet Realität geworden sind.

Man darf hoffen, dass ein so genanntes nutzerorientiertes Bestandsmanagement in den wissenschaftlichen Bibliotheken die alte Btx-Literatur nicht schon als entbehrlich ausgesondert hat. Sachverhalte wie der hier vorgestellte zeigen, dass der "Dornröschen-Schlaf" dieser Inhalte bald um ist und die Nachfrage gerade aus der medienwissenschaftlichen Forschung steigen könnte. Auch veraltete Technikliteratur hat durchaus eine Zukunft. 


27. Juni 2017
von Eric W. Steinhauer
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Zeitungsdämmerung? – Der Kompromiss zum UrhWissG

Nach langer und zäher Diskussion haben sich die Regierungsfraktionen auf Änderungen beim UrhWissG geeignigt (vgl. Ausschussdrucksache 18 [6] 376), die am Freitag im Bundestag verabschiedet werden sollen. Morgen werden die Ausschussberatungen sein.

Zunächst die gute Nachricht. Der Regierungsentwurf wird die Ausschussberatungen wohl weitgehend unverändert passieren. Es wird insbesondere bei den elektronischen Semesterapparaten, aber auch bei Text- und Data-Mining zu Verbesserungen kommen. Auch erhält die Deutsche Nationalbibliothek endlich die notwendige urheberrechliche Grundlage, um mit der Archivierung von Netzpublikationen zu beginnen. Sie ist seit 2006 dafür gesetzlich zuständig. Erst einmal vom Tisch sind eine Einzelabrechnung für elektronische Semesterapparate sowie ein verpflichtender Verlagsvorrang. Auch andere Verbesserungen im geltenden Urheberrecht sind zu verbuchen, die hier nicht weiter aufgezeigt werden können.

Etwas eingetrübt wird die Novelle dadurch, dass sie auf 5 Jahre befristet sein soll. Danach sind die neuen Bestimmungen für Wissenschaft und Bildung nicht mehr anwendbar. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn diese Bestimmungen nicht zu großen Teilen bestehende Regelungen ersetzt hätten, die durch das UrhWissG aufgehoben werden. Im worst case wären 2023 ALLE Kopien im Kontext von Wissenschaft, Bildung und Schule verboten sowie die Kopien in der Fernleihe ERSATZLOS abgeschafft. Der Gesetzgeber sollte vielleicht darüber nachdenken, die Rolle rückwärts bei der Novelle auch auf die mit der Novelle gemachten Streichungen anzuwenden, so dass im Fall der Fälle wenigstens die Rechtslage vor dem Erlass des UrhWissG wiederauflebt. Gleichwohl kann man sagen, dass fünf Jahre eine lange Zeit sind und der Bundestag allein schon mit Blick auf europäische Entwicklungen häufiger Gelegenheit haben wird, das Urheberrecht zu behandeln, so dass es wohl nicht zum Super-GAU einer schrankenfreien Bildung und Wissenschaft kommen wird.

Als "Erfolg" einer insbesondere von der FAZ mit regelrechten Falschinformationen geführten Kampagne kann die weitgehende Herausnahme der Nutzungen von Zeitungsartikeln und vergleichbaren Presseerzeugnissen bei den neuen Bestimmungen verbucht werden. Was mit Blick auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Zeitungen, die angesichts einer
zunehmend alternden und damit sinkenden Leserschaft ihr Heil in kommerziellen Online-Archiven suchen, durchaus verständlich ist, wurde handwerklich freilich mehr als schlecht umgesetzt.

Elegant wäre ein eigener Passus dergestalt gewesen, dass die Nutzung von Zeitungsartikeln auf elektronischen Plattformen oder in der Fernleihe dann nicht zulässig ist, wenn Zeitungsverlage selbst eigene Angebote machen. Dieser durchaus akzeptable Kompromiss, der Investitionen in Online-Archive und die Umsätze dort ausreichend abgesichert hätte, wurde jedoch nicht beschlossen. Stattdessen wurde eine grobe und undifferenzierte Lösung gewählt, die die Nutzung von Zeitungsartikeln in ALLEN Bereichen von Bildung, Wissenschaft und Bibliothek untersagt.

Das führt zu folgenden geradezu grotestken Ergebnissen:

Ein Wissenschaftler oder auch eine Schülerin dürfen künftig für die nichtkommerziellen Zwecke von Schule und Hochschule KEINEN einzigen Zeitungsartikel mehr kopieren.

Da aber sowohl die Privatkopie als auch der sonstige eigene Gebrauch in § 53 UrhG unverändert erhalten bleiben, dürfte unsere Schülerin einen Zeitungsartikel für die Vorbereitung eines Referates zwar nicht kopieren, um aber den gleichen Artikel ihrer blinden Oma am Nachmittag im Altenheim vorzulesen schon.

Der sonstige eigene Gebrauch gestattet ausdrücklich Kopien auch für gewerbliche und kommerzielle Zwecke. Ein Rechtsanwalt dürfte also für die Ausübung eines Mandates einen Zeitungsartikel kopieren, eine Professorin aber nicht, wenn sie über juristische Zeitgeschichte wissenschaftlich arbeitet.

In gleicher Weise wird an einer Technischen Universität eine mit Industriemitteln forschende Wissenschaftlerin Zeitungsartikeln vervielfältigen dürfen, während ihr Kollege aus der Grundlagenforschung sich einen interessanten Beitrag aus der Naturwissenschaftsseite der FAZ nicht ablichten darf.

Man könnte hier einwenden, dass der sonstige eigene Gebrauch in § 53 UrhG immer auch als Auffangtatbestand diente und daher mit der Novelle eigentlich nichts passiert ist. Hier freilich macht die Logik des UrhWissG einen dicken Strich durch die Rechnung. Es ist ausdrücklich Sinn und Zweck der neu geschaffenen Vorschriften, alle für einen bestimmten Lebenssachverhalt geltenden Bestimmungen an EINER Stelle zu versammeln. Im Klartext heißt das, dass wissenschaftliche Forschung Werke künftig NUR nach den neuen Bestimmungen nutzen darf. Ein Ausweichen auf § 53 UrhG ist damit wohl nicht mehr möglich.

Die gründliche Streichung des Wortes "Zeitung" in den neuen Bestimmungen betrifft auch die Fernleihe. Künfig sind Kopien aus Zeitungen in der Fernleihe ausnahmslos untersagt. Wenn gleichzeitig die Presse, allen voran die FAZ nicht müde wird, ihre staatstragende Funktion im Zeitalter der Fakenews zu betonen und ihre Bedeutung als Quelle gesicherter Fakten herauszustellen, wird Bürgerinnen und Bürgern, die Ereignisse anhand älterer Presseberichte bewerten wollen, der Zugang zu diesen Inhalten erschwert, wenn nicht gar faktisch unmöglich gemacht. Man könnte den vollständigen Ausschluss von Zeitungen von der Fernleihe geradezu als ein Wegschließen der freien Pressse verstehen. Mit dem für eine funktionierende Demokratie wichtigen Grundrecht der Informationsfreiheit, das einen ungehinderten Zugang zu publizierten Inhalten garantiert, wird man das kaum in Einklang bringen können.

Die jetzt im Änderungsantrag sich abzeichnende Ausmerzung der Zeitung aus dem Bereich von Bildung und Wissenschaft dürfe kaum im Interesse der Presse insgesamt sein, vor allem nicht derjenigen kleinen Blätter, die aus purem Firmenegoismus des FAZ nun vollkommen von der Sichtbarkeit in den Ausbildungseinrichtungen abgeschnitten sind. Mit Blick auf die unter Jugendlichen und Studierenden ohnehin äußerst geringe Nutzung gerade von Tageszeitungen dürfte die Verbannung der Presse aus Schule und Hochschule den Niedergang der Zeitung eher beschleunigen als aufhalten.

Da gerade im Feuilleton traditionell auch wissenschaftlich gehaltvolle Essays renommierter Forscherinnen und Forscher erscheinen, mutet es seltsam an, wenn diese Inhalte nicht wie andere Fachartikel an Bildungseinrichtungen genutzt werden dürfen. Sachlich rechtfertigen wird man das kaum können.

Es besteht zwar nur sehr wenig Hoffnung, dass an der für die Presse vollkommen verunglückten Regelung noch etwas geändert wird. Gleichwohl sei ein kleiner Vorschlag unterbreitet, der die Kuh vielleicht noch vom Eis holt, ohne den mühsam verhandelten Kompromiss mit Blick auf die Rentabilität von Online-Archiven infrage zu stellen.

Der Vorschlag sieht so aus:
1. Die Änderungen bei den Zeitungen, wie im Änderungsantrag vorgesehen, werden rückgängig gemacht.
2. Es wird dem geplanten § 60g folgender Absatz 3 angefügt: "Soweit Zeitungen und vergleichbare Presseerzeugnisse den Mitgliedern der Öffentlichkeit offensichtlich von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl mittels einer vertraglichen Vereinbarung zu angemessenen Bedingungen zugänglich sind, ist eine öffentliche Zugänglichmachung nach diesem Unterabschnitt ausgeschlossen, § 60e Abs. 5 ist nicht anwendbar."

Damit kann Presse wieder durchgängig für Bildung und Wissenschaft genutzt werden. Soweit Zeitungen jedoch eigene Online-Archive vermarkten, sind Fernleihe und Lernplattformnen tabu. Dieses Ergebnis ist fair und sachgerecht. Alles andere wäre unabsichtigte Sterbehilfe für die freie Presse und ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht auf Informationsfreiheit.

19. Juni 2017
von Eric W. Steinhauer
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22. Archivwissenschaftliches Kolloquium in Marburg

Liveblog. Es wird heute und morgen ständig aktualisiert!

#AWK22

"Nicht nur Archivgesetze ... Archivarinnen und Archivare auf schwankendem rechtlichem (sic!) Boden?"
Best Practice - Kollisionen - Perspektiven

Hier gibt es das Programm: Flyer.

Frau Dr. Irmgard Becker eröffnet die Tagung.
Archivrecht ist mittlerweile kein Nischenthema mehr. Das heutige Kolloquium ist mit knapp 250 Teilnehmern das mit großem Abstand größte Kolloquium dieser Art.

Archivgesetze sind Querschnittsgesetze, die zwar überall in der Verwaltung gelten, aber nicht immer akzeptiert werden. Hier gibt es noch viel zu tun. Zudem gibt es Wechselbeziehungen zum Datenschutz- oder Informationsfreiheitsrecht. Hier liegen viele Herausforderungen.

Dr. Clemens Rehm hält den Eröffnungsvortrag.
Digitalisierung macht die Dinge rechtlich kompliziert. Zugleich hat sich auch der Beruf gewandelt. Das Internet ermöglicht die pro-aktive Verbreitung von Inhalten für Archive. Nutzer erwarten Open Access. Hier kommt aber das Urheberrecht in einer neuen Dimension ins Spiel.

Zugang wird wichtiger und löst den alten Begriff der Nutzung zunehmend ab. Hier kommen Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze ins Spiel sowie die Weiterverwendung von Informationen.

Große Dynamik in der Gesetzgebung. Archivgesetze werden fragmentarischer, weil viele wichtige Aspekte von Informationsfreiheit, Datenschutz Urheberrecht und dergleichen außerhalb des Archivrechts geregelt werden. Archive müssen diese Bestimmungen beachten. Diese Gesetze sind teilweise wichtiger als Archivgesetze.

25. Mai 2018 wird EU-Datenschutzgrundverordnung mit dem Recht auf Vergessenwerden geltendes Recht. Daraus ergeben sich Änderungen auch in den Archivgesetzen. Seit 2015 gilt das Informationsweiterverwendungsgesetz auch für Archive. Archivrelevante Regelungen werden in Zukunft außerhalb der Archivgesetze geregelt. Unangenehm ist hier, dass Archive in der politischen Wahrnehmung eher unwichtig sind.

Neben Einschätzungen von Datenschutzbeauftragten sind auch Urteile für Archive wichtig, z.B. das Mappus-Urteil zu den gesicherten eMails: Vorrang des Archivrechts vor dem allgemeinen Datenschutzrecht ist verfassungsrechtlich in Ordnung.

15. Juni 2017
von Eric W. Steinhauer
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Sargnagel Semesterapparat?!

In den den nächsten zwei Wochen werden in Berlin die entscheidenden Gespräche über das UrhWissG geführt. Man könnte, besieht man sich die öffentliche Diskussion der letzten Zeit, aber auch bloß vom "Elektronische-Semesterapparate-Gesetz" sprechen. Hier scheinen die interessierten Kreise die größten Bauchschmerzen zu haben, wenn nun eine Regelung Gesetz werden soll, die in dieser Form bereits seit 2003 in Kraft ist. Neu sind eigentlich nur ein paar Klarstellungen sowie eine Begrenzung (!) für Forschungsplattformen von aktuell 25% eines Werkes auf 15%.

Ach ja, der vom BGH in das Gesetz hineingelesene Vertragsvorbehalt wird noch gestrichen, der allerdings bereits vom EuGH in seiner Leseplatz-Entscheidung im Grundsatz gekippt wurde. Der Gesetzentwurf reagiert auf diese Rechtsprechung ebenfalls in klarstellender Weise.

Was ist also das Problem? Das Problem ist die angemessene Vergütung für die Nutzung im Semesterapparat. Hier haben die Verlage über die VG Wort bereits zur geltenden Rechtslage jahrelang prozessiert. Dabei wurden immer zwei Forderungen erhoben: Angemessene Lizenzangebote sollen Vorrang haben, und: die Nutzung im Semesterapparat ist einzelfallbezogen zu vergüten.

Da zwischenzeitlich höchstrichterlich festgestellt worden ist, dass Verlage nun einmal keine Urheber sind und daher an den von der VG Wort einzusammelnden Vergütungen nicht beteiligt werden, hat der Streit um die Semesterapparate eine besondere Note bekommen. Im Grunde wollen Verlage nur noch Nutzungen über Lizenzen. Da sehen sie wenigstens Geld. Mit Blick auf eine vielleicht künftig wieder mögliche Beteiligung am VG Wort-Topf und weil man eben den toten Gaul bis zum bitteren Ende reiten will, hält man aber auch noch die Forderung nach Einzelvergütung aufrecht. Eine ziemlich dumme Idee!

Nicht nur, dass ein Rahmenvertrag mit den Hochschulen, der eine Einzelvergütung vorsah, Ende 2016 bereits dankend abgelehnt wurde und man lieber auf elektronische Semesterapparate verzichten wollte, als eine bürokratische Einzelabrechnung vorzunehmen. Auch ein Pilotprojekt an der Universität Osnabrück konnte klar zeigen, dass allein schon der bürokratische Erfassungsaufwand für die Einzelabrechnung zu einer geringeren Nutzung führt. Das alles bedeutet keine oder nur wenige Einnahmen  für Autoren und Verlage.

Nehmen wir einmal an, die Verlage (eigentlich nur die Lobbyisten des Börsenvereins, eine Handvoll mittelständischer Wissenschaftsverlage und die FAZ, gerade die großen Verlage lässt das Thema total kalt) bekämen ihr Räppelchen: Lizenzvorrang und Einzelabrechnung. Was würde passieren?

Ein Lehrender will ein paar Aufsätze und Buchkapitel in seinem Seminar einsetzen. Er muss dann zunächst prüfen, ob die gewünschten Inhalte von einem Verlag angeboten werden. Ist das der Fall, muss er entscheiden, ob die Angebote angemessen sind. Ist das der Fall, muss er nach dem Einscannen die Literatur in einer Meldemaske erfassen und sich darum kümmern, dass genügend Finanzmittel für eine nutzungsabhängige Vergütung zur Verfügung stehen.

Mal ganz ehrlich: Welcher Dozent ist so doof, damit seine Zeit zu verschwenden?!

Er wird im Seminar einfach eine Literaturliste ausgeben. Die gewünschten Titel werden, wie das jahrezehntelang üblich war, in einem gesonderten Regel als "Semesterapparat" aufgestellt. Studierende werden sich die Inhalte kopieren, vermutlich eher scannen (was legal ist) und dann über diverse Dropboxen austauschen (was nicht immer legal ist). Auch hier sehen Verlage keine Vergütung.

Aber stellen wir uns einmal vor, die Inhalte werden tatsächlich in den elektronischen Semesterapparat gestellt und dann einzeln abgerechnet. Jetzt stellt sich in der Hochschule die Frage nach dem Geldtopf. Die Sachmittel des Lehrstuhls? Auf das neue Notebook und oder die Konferenz in Rio wegen der Scans im Semesterapparat verzichten? Nö. Dann doch lieber nur eine Literaturliste ausgeben.

Oder den Bibliotheksetat plündern! Klar, kann man machen. Die einzigen freien Mittel sind dort aber die Mittel für gedruckte Bücher. Dann werden eben ein paar weniger Titel gekauft, vor allem spezielle Wissenschaftsliteratur, nach der ohnehin kaum einer fragt. Das Geld wird dann für Scans aus einer Bachelor-Einführung in stark besuchten Erstsemesterveranstaltungen verbraten. Ob das im Sinne der Wissenschaftsverlage ist, die ja immer betonen, dass sie eine Titelvielfalt bieten, sei mal dahingestellt. Festhalten kann man jedenfalls, dass im besten Fall die Nutzung der Einzelabrechnung in der Praxis mit einem Rückgang der Buchkäufe bezahlt würde.

Hier könnte man einwenden, dass man doch zusätzliche Mittel bereitstellen kann. Hm. Ja. Aber dann gibt es ein neues Problem, das bislang unterschlagen wurde. Geld ist endlich und die Nutzung im Semesterapparat muss verwaltet, also etatmäßig auf die einzelnen Fächer und Dozenten verteilt und auch gedeckelt werden. Hier muss man jetzt über Personal und Personalkosten reden ...

Vermutlich wird aber alles ganz anders kommen.

Anstatt sich den Stress mit der Recherche nach Verlagsangeboten zu machen und Meldemasken auszufüllen, wird unser Dozent ganz einfach auf die an den Hochschulen bereits reichlich vorhandenen digitalen Ressourcen der großen Wissenschaftsverlage, die meist als Paket erworben werden, zurückgreifen. Oder man nimmt gleich freie Inhalte aus dem Netz. Das kommt bei den Studierenden eh besser an und ist gut für die Evaluation.

Wenn man jetzt noch überlegt, dass die Mehrzahl der an deutschen Hochschulen Lehrenden keine Professoren, sondern Lehrbeauftragte ohne eigene Finanzmittel und ohne Hilfskräfte sind, dürfte die Antwort auf die Frage, inwieweit ein elektronischer Semesterapparat mit Verlagsinhalten gefüllt wird, wenn diese einzeln abgerechnet werden müssen, ziemlich eindeutig ausfallen: Wir werden eine weitgehende Nichtnutzung erleben!

Und das wird gerade die kleinen und mittleren Wissenschaftsverlage hart treffen, weil die Dozenten auf vorhandene Digitalinhalte und freie Netzressourcen anstelle eines analogen Semesterapparats in der Bibliothek setzen.

Auch wenn diese Verlage ihre Bücher digital vertreiben, werden sie davon nur bedingt profitieren, denn Dozenten werden sich aus Kostengründen für EIN bestimmtes Lehrbuch entscheiden. Alternative Titel werden nicht genutzt; die müssten ja umständlich einzeln abgerechnet werden, wenn sie wegen eines möglichen Lizenzvorrangs überhaupt genutzt werden können.

Man sollte aber durchaus gerecht zu den Verlagen sein. Sie haben es schwer. Der Medienwandel geht an ihnen nicht spurlos vorüber. Es ist glaubhaft, wenn gerade das Lehrbuch unter Druck gerät. Aber die Zeiten, in denen wissenschaftliche Inhalte immer auch Verlagsinhalte waren, sind mit dem Aufkommen des Internet unwiederbringlich vorbei. Ein Lizenzvorrang führt daher nicht mehr zum Vertragsschluss, sondern zu Alternativnutzungen. Zudem kann es sein, dass das Konzept "Lehrbuch" mit Blick auf vielfältige digitale Lehrmöglichkeiten vielleicht gar keine Zukunft mehr hat. Wer weiß. Was aber sicher ist: Mit Lizenzvorrang und Einzelabrechnung wird die digitale Nutzung konventioneller Verlagspublikationen unattraktiv. In dieser Form wird der elektronische Semesterapparat zum Sargnagel für kleine und mittlere Wissenschaftsverlage.

Die Politik ist gut beraten, nicht auf das seit Jahren immer gleiche Gerede der Verlagslobby zu hören. 2003, als der elektronische Semesterapparat in § 52a UrhG eingeführt wurde, fürchtete Jürgen Kaube in der FAZ vom 10. April, dass 2006 Verlage wie Klostermann und Mohr Siebeck nicht mehr existieren werden. 2017 gibt es sie trotz der elektronischen Semesterapparat immer noch. Damit ist über den verlagsfreundlichen Alarmismus eigentlich alles gesagt. Damit es auch in zehn Jahre noch kleine Wissenschaftsverlage in Deutschland gibt, sollte der elektronische Semesterapparat - wie im Regierungsentwurf des UrhWissG vorgesehen - ohne Lizenzvorrang und mit pauschaler Vergütung, also nutzerfreundlich geregelt werden. Dann nämlich macht es für Bibliotheken und Dozenten Sinn, auch weiterhin Bücher (!) von den Verlagen zu kaufen, weil man diese in der Lehre auch tatsächlich einsetzen kann. Und die Studierenden von heute sind ja die Wissenschaftler und die Käufer von morgen. Man sollte sie nicht fahrlässig vom Verlagsbuch entfremden!

Es wäre tragisch, wenn der Börsenverein und seine Verbandfunktionäre in zehn Jahren als diejenigen erscheinen werden, die die Totenglocke für die kleinen Wissenschaftsverlage in Deutschland geläutet und Lehrende und Studierende in das Internet vergrault haben. Glücklicherweise kann die Politik das noch abwenden, wenn sie Ende des Monats einfach dem vom Bundeskabinett beschlossenen UrhWissG zustimmt.



30. Mai 2017
von Eric W. Steinhauer
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FAZ, BILD und das Urheberrecht

Nachdem die FAZ in der Samstagsausgabe vollkommen haltlos den Tod der freien Presse durch die geplante Novelle im Wissenschaftsurheberrecht herbeiphantasiert hat, hat die BILD am Montag die Sache aufgenommen und die sinnfreien Ausführungen der FAZ wiederholt.

Im Nachgang gab es auf Twitter eine rege Diskussion mit Ralf Schuler, dem Berliner Parlamentsredakteur der BILD, der für den Artikel in verantwortlich zeichnet. Immerhin! Denn die FAZ bedient war gerne soziale Medien als Contentschleuder für ihre Artikelt, reagiert jedoch selbst nicht auf öffentliche Kritik.

Schuler fand die Darstellung in der FAZ ok, die Auseinandersetzung mit den fachlichen Argumenten hier im Blog jedoch zu anstrengend. Sind ja auch lange Beiträge. Klar. Urheberrecht ist halt kein umstrittener Handelfmeter.

Um die Sache etwas plastischer zu machen, sei einmal Folgendes angenommen: Herr Schuler will jetzt doch die Sachen hier im Blog gründlich lesen, auch um Ende der Woche einen neuen Beitrag in BILD zu verfassen. Er möchte die Informationen hier also beruflich nutzen. Um alles bequemer lesen zu können, druckt er sich in seinem Berliner Büro einen Beitrag aus.

Urheberrechtlich greift er damit in mein mir als Urheber ausschließlich zustehendes Vervielfältigungsrecht aus § 16 UrhG ein. Da der Beitrag unter keiner freien Lizenz steht und ich mit Herrn Schuler auch keine Nutzungsrechtsvereinbarung abgeschlossen habe, bleibt nur noch die Kopierschranke des § 53 UrhG, um den Ausdruck zu rechtfertigen.

Da Herr Schuler meinen Beitrag aber beruflich nutzen will, kann er sich weder auf eine Privatkopie noch auf einen eigenen wissenschaftlichen Gebrauch berufen. Übrigen bleibt nur der sonstige eigene Gebrauch. Danach muss es sich bei dem Blog-Beitrag um kleine Teile eines erschienenen Werkes handeln, denn nach dem Gesetz dürfen für berufliche Zwecke nur erschienene Werke vervielfältigt werden.

Nach § 6 Abs. 1 S. 1 UrhG ist ein Werk erschienen, wenn mit Zustimmung des Berechtigten (das bin in diesem Fall ich selbst) Vervielfältigungsstücke des Werkes in genügender Anzahl der Öffentlichkeit angeboten worden oder in Verkehr gebracht worden sind. Das Dumme ist nur, mein Blog ist bloß digital und gibt es nur im Netz. Als flüchtige Netzressource, die auf keinem stabilen Repositorium oder Verlagsserver liegt, ist es nach ganz herrschender Meinung bloß ein veröffentlichtes Werk im Sinne von § 6 Abs 2 UrhG. 

Damit kann sich Herr Schuler aber nicht mehr auf § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 4a UrhG berufen und sein aus beruflichen Gründen angefertigter Ausdruck ist eine Raubkopie! Nach § 106 Abs. 1 UrhG hat er sich sogar strafbar gemacht.

Wenn Herr Schuler, weil er diesen Blogbeitrag hier kurios findet, einen Ausdruck davon als nette Erinnerung an eine lustige Twitter-Unterhaltung und ihre Folgen anfertigt und seiner Familie zeigen möchte, so wäre dies hingegen eine legale Privatkopie nach § 53 Abs. 1 UrhG.

Und wenn Herr Schuler diese Unterscheidung bescheuert und nicht nachvollziehbar findet, dann beginnt er vielleicht zu verstehen, warum das geltende Urheberrecht im digitalen Zeitalter noch lange nicht angekommen und total lebensfremd ist und warum es Bildung und Wissenschaft so wichtig ist, dass hier endlich notwendige Reformen angepackt werden.

Und die Aufregung der FAZ? Alles nur Fake? Ja und nein. Was bemerkenswert ist, ist das die allermeiste Kritik, die man am UrhWissG übt, Nutzungen betrifft, die nach geltendem Recht schon lange legal sind. Offenbar bemerkt man diese Nutzungsmöglichkeiten erst jetzt im Gewand der neuen Rechts. Eigentlich klasse, sind die neuen Vorschriften doch mit dem Anspruch angetreten, das geltende Recht verständlicher und übersichtlicher zu machen. So gesehen zeigt die Kritik von FAZ und BILD vor allem eins: Das UrhWissG ist ein gutes Gesetz, denn es funktioniert! Die Beiträge in der Presse der letzten Tage sind dafür der beste Beweis. Also dann: Herzlichen Dank!!

29. Mai 2017
von Eric W. Steinhauer
Kommentare deaktiviert für UrhWissG jetzt auch faktenfrei in BILD

UrhWissG jetzt auch faktenfrei in BILD

Das UrhWissG ist jetzt mittlerweile auch in der BILDangekommen. Kritisiert wird, dass der neue Gesetzentwurf die Digitalisierung und Nutzung von Verlagsangeboten durch Wissenschaftler und Bibliotheken ermöglicht, ohne dass diese dafür zahlen müssen. Richtig ist, dass das UrhWissG die schon immer vergütungspflichtigen Schrankenbestimmungen des UrhG lediglich neu formuliert, in Randbereichen reformiert und im Übrigen in der Sache unverändert gelassen hat.


In Teilen ist es sogar zu Verschärfungen des geltenden Rechts gekommen, indem nämlich Bibliotheken die bislang zulässige Dokumentlieferung an gewerbliche Nutzer untersagt wird. Künftig können Verlage dieses Geschäft exklusiv selbst übernehmen.


In den letzten Wochen hat insbesondere die FAZ scharf gegen das Gesetz geschossen. Diesen Vorgang greift die BILD-Zeitung nun auf, um daraus – wir sind ja schon im Vorwahlkampf – eine Attacke gegen den Bundesjustizminister zu reiten.


Grundlage für die Meldung bei BILD ist zunächst eine Protestnote von 6.000 Wissenschaftlern, wobei vor allem der Bestseller-Autor des Beck-Verlages Jürgen Osterhammel mit einem Bezug zur Kanzlerin, dessen Laudatio zu ihrem 60. Geburtstag er gehalten hat, genannt wird. Das ist geschickt, signalisiert es doch: Staatstragende Kreise sind gegen das Gesetz! Dass die Kanzlerin selbst hinter diesem Gesetzentwurf steht, der im Bundeskabinett beschlossen wurde, sei nur kurz vermerkt.


Mit der vor allem von älteren Wissenschaftler und Pensionären gezeichneten „Protestsnote“ ist offenbar die Unterschriften-Aktion „Publikationsfreiheit.de“ gemeint. Zu den Hintergründen dieser Aktion sowie den irreführenden Behauptungen der die Kampagne tragenden Verlage, kann man sich hier informieren:




Neben Publikationsfreiheit.de ist Grundlage der BILD-Meldung nur noch die Berichterstattung der FAZ. Diese kann man freilich nur als gezielte Desinformationskampagne bezeichnen. Wäre der Begriff nicht so politisch problematisch besetzt, „Lügenpresse“ würde in diesem Fall passen. Die Fakten zum jüngsten FAZ-Beitrag am Samstag und den Anzeigen der Zeitung jeweils zu den Sitzungstagen von Bundesrat und Bundestag kann man hier nachlesen:



Vor diesem Hintergrund hat die Bezeichnung der FAZ als „renommiert“ in dem BILD-Artikel satirische Qualitäten. Eine Zeitung, die sich zu einem Kampagnenblatt herabwürdigt und mit grob unwahrer Berichterstattung Klientelpolitik betreibt, hat mit guter journalistischer Arbeit nicht viel zu tun. Dass es jetzt einen Schulterschluss von BILD und FAZ gibt, ist da nur folgerichtig. Willkommen auf dem Boulevard, liebe FAZ!


Und natürlich fällt in dem Beitrag das Wort vom Qualitätsjournalismus, der nicht untergraben werden darf. Das Gesetz freilich hat keine über die bisherige Rechtslage hinausgehende Auswirkung auf die Presse.


Was wir hier erleben ist eine Kampagne zugunsten einiger kleiner Wissenschaftsverlage, die mit dem Medienwandel (Digitalisierung, Internet) nicht zurechtkommen und verzweifelt versuchen, das Internet abzuschalten. Warum das Quatsch ist, kann man hier nachlesen:



Die Politik ist gut beraten, im laufenden Gesetzgebungsverfahren bei den Fakten zu bleiben und sich nicht von ein paar Einbläsern in der Presse irre machen zu lassen. Fakt ist nämlich, dass und 3 Millionen Wahlberechtigte an den Hochschulen es merken werden, wenn die Reform des Wissenschaftsurheberrechts nicht funktioniert. Im September werden die Hochschulen, weil dann ein Moratorium mit der VG Wort ausläuft, ihre elektronischen Semesterapparate abschalten müssen. Diese Situation ist nicht fiktiv. Sie drohte schon einmal Ende 2016. Im September 2017 ist aber auch Bundestagswahl! Selbstverständlich werden die Hochschulen ihre Entscheidungen hochschulintern gut vernehmbar kommunizieren. Und natürlich werden dann auch Ross und Reiter genannt. Dagegen helfen auch keine alternativen Fakten in der Presse.



27. Mai 2017
von Eric W. Steinhauer
Kommentare deaktiviert für Faktenfrei und meinungsstark: Die Samstags-F.A.Z. zum geplanten Urheberrecht

Faktenfrei und meinungsstark: Die Samstags-F.A.Z. zum geplanten Urheberrecht

Unter der boulevardesken Überschrift "Heiko Maas macht die freie Presse kaputt" und dem Anreißer "Wenn der Justizminister mit seinem neuen Urheberrecht durchkommt, dann wird es keine freien Zeitungsverlage mehr geben. Kennt der Mann die Verfassung nicht?" wird in der F.A.Z von heute angesichts der geplanten Novelle des Bildungs- und Wissenschaftsurheberrechts ein Frontalangriff auf die Pressefreiheit befürchtet.

Man müsste präzisieren: befürchtet die F.A.Z. einen solchen Angriff. Die 332 anderen Tageszeitungen (Quelle: BDZV) in Deutschland haben offenbar noch nichts davon bemerkt, dass sie in ein paar Wochen alle sterben müssen.

 Der studierte Kulturwissenschaftler Thomas Thiel will in seinem Beitrag im Vergleich zum geltenden Urheberrecht tiefgreifende Änderungen gefunden haben, die allesamt nur darauf zielen, die FAZ und alle andere Zeitungen zu vernichten.

 Und hier hat Thiel dann den Hauptangriff gegen die freie Presse ausgemacht:
 "Der Gesetzentwurf geht aber noch einen Schritt weiter und erlaubt es einem jeden, einzelne Zeitungsartikel der Allgemeinheit zu Bildungszwecken kostenlos zur Verfügung zu stellen. Anders als für wissenschaftliche Publikation, die der Staat teilweise selbst finanziert, dürfen diese Zeitungstexte vollständig benutzt werden. Wer einzelne Zeitungstexte lesen möchte, kann sich diese von Bibliotheken bequem frei Haus zusenden lassen."

 Auf welche Bestimmung des Gesetzentwurfes sich Thiel konkret bezieht, schreibt er nicht. Das ist vielleicht auch gar nicht wichtig, weil es hier allein auf den Schluss ankommt, den er zieht und offenbar unendlich skandalös findet: "Wer einzelne Zeitungstexte lesen möchte, kann sich diese von Bibliotheken bequem frei Haus zusenden lassen."

Hier spätestens ist man ratlos. Offenbar kann man bei Akademikern mittleren Alters eine praktischer Vertrautheit mit der Fernleihe nicht mehr voraussetzen. Ansonsten hätte Thiel doch wohl merken müssen, dass man immer schon einzelne Zeitungsartikel über Bibliotheken erhalten konnte. Und zwar völlig legal, wie man in § 53a Abs. 1 S. 1 UrhG nachlesen kann: "Zulässig ist auf Einzelbestellung die Vervielfältigung und Übermittlung einzelner in Zeitungen ... erschienener Beiträge ... im Wege des Post- oder Faxversands durch öffentliche Bibliotheken, sofern die Nutzung durch den Besteller nach § 53 zulässig ist." Nach § 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 4a UrhG darf jedermann einzelne Beiträge die in Zeitungen erschienen sind kopieren oder kopieren lassen.

Damit steht der bequemen Zusendung von Presseartikeln frei Haus durch Bibliotheken nichts mehr im Wege - nach geltendem (!!!!) Recht. Und wo ist jetzt der Skandal??

 Mit solchen Feinheiten hält sich Thiel nicht weiter auf und geht etwas zusammenhanglos auf (zur Recht!) als anstößig empfundene Geschäftsmodelle von Großverlagen ein, um danach wieder zu seinem Pressethema zu kommen: "Im Zuge der Reform soll die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) in eine Art riesigen Pressekiosk verwandelt werden, der – Grundgesetz hin, Reform her – ohne Einverständnis der Eigentümer alle jemals veröffentlichten Zeitungstexte gratis anbieten darf."

 Ähm. Ja. Es ist üblich, dass Kulturnationen Verlage und Pressehäuser verpflichten, kostenfrei Pflichtexemplare an ihre Landes- und Nationalbibliotheken zu liefern. Das ist auch in Deutschland jahrzehntelange Praxis und seit über dreißig Jahren verfassungsrechtlich durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Seit zehn (!!) Jahren sind überdies auch elektronische Publikationen im Internet ablieferungspflichtig. Hier ist also wiederum gar nichts neu.

 Wirklich neu ist allerdings diese Norm, künftig § 16a Abs. 2 DNB-Gesetz, die Thiel vermutlich im Blick hat: "Die Bibliothek darf im Auftrag eines Nutzers Werke oder andere nach dem Urheberrechtsgesetz geschützte Schutzgegenstände für die nicht-kommerzielle wissenschaftliche Forschung zur Erleichterung von Zitaten vergütungsfrei vervielfältigen und unter einer dauerhaft gleichbleibenden Internetadresse öffentlich zugänglich machen. Dies gilt nur, wenn die Werke und sonstigen Schutzgegenstände ohne Beschränkungen, insbesondere für jedermann und unentgeltlich, öffentlich zugänglich sind und ihre Zugänglichkeit nicht dauerhaft gesichert ist.“ (Quelle: Regierungsentwurf, S. 16.)

 Hier geht es darum, dass die DNB zur Absicherung und Nachprüfbarkeit von Zitaten freie Netzressourcen (ob diese frei zugänglich sind, entscheidet der Urheber!) dauerhaft speichern und zugänglich machen darf. Diese Bestimmung ist auf Presseerzeugnisse, sofern es sich nicht um kostenfreie reine Online-Zeitungen handelt, allerdings NICHT anwendbar, weil die Zugänglichkeit jedenfalls über die in Bibliotheken gesammelten Printexemplare dauerhaft gesichert ist.

Und wo ist jetzt wieder das Problem? Die von Thiel in seinem Artikel angeprangerten Zustände sind entweder schon teilweise jahrzehntelang geltendes Recht oder stehen im neuen Gesetz gar nicht drin. Diese Gesetz, so lesen wir, hat das "Justizministerium [übrigens] ... an den federführenden Rechtsausschuss verwiesen, der am kommenden Montag seine letzte Anhörung" durchführt. Dass es im Gesetzgebungsverfahren ohnehin in der Regel nur EINE Anhörung gibt, weswegen hier von einer "letzten Anhörung" zu sprechen doch etwas dramatisch klingt, ist geschenkt, aber ein Justizministerium kann überhaupt nichts an den Rechtsausschuss verweisen. Das tut das Plenum des Bundestages. Der Gesetzentwurf selbst wurde übrigens nicht von Herrn Maas beschlossen, sondern vom gesamten Bundeskabinett. Nicht nur im Urheber-, sondern auch im Staatsrecht nimmt es der Beitrag mit den Fakten nicht so genau.

Thiel schließt mit einer Lobeshymne auf die Pressefreiheit und ihre Unverzichtbarkeit, weil "ein demokratischer Rechtsstaat eine solide Informationsbasis braucht, wenn er nicht in der Flut von Meinungsrobotern und Falschbotschaften ertrinken will ..." Was soll man nach der Lektüre dieses Beitrages von der F.A.Z. halten? Eine "solide[n] Informationsbasis" jedenfalls stellt man sich irgendwie anders vor.

23. Mai 2017
von Eric W. Steinhauer
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Binärer Quatsch: Ein Verlagsvorrang im UrhWissG?

In der nächsten Woche wird im Rechtsausschuss die Anhörung zum UrhWissG stattfinden. In der ersten Lesung des Gesetzentwurfes wurde durch den Abgeordneten Stefan Heck (CDU) das Argument vorgebracht, dass Lizenzierungen bei Verlagen Vorrang vor der Nutzung von Schranken haben sollten. In die gleiche Richtung geht ein Artikel des bekannten Berliner Urheberrechtlers Jan Bernd Nordemann im Tagesspiegel vom 18. Mai 2017.


Ein solcher Verlagsvorrang soll vor allem für die Semesterapparate gelten, und Lehrbücher sollten am besten ganz von der Schrankennutzung ausgenommen werden. Begründet wird dies u.a. mit dem so genannten Drei-Stufen-Test, der in der europäischen InfoSoc.-Richtlinie zu finden ist und verbindliche Kriterien für die Formulierung nationaler Urheberrechtsschranken enthält. Nach der zweiten Stufe dieses Tests sind Schrankenbestimmungen unzulässig, wenn sie die normale Auswertung eines Werkes beeinträchtigen. Genau diese Beeinträchtigung wird behauptet, wenn Verlagswerke gegen eine angemessene Vergütung im Semesterapparat genutzt werden sollen, ohne dass es dafür auf einen Vorrang von Verlagsangeboten ankäme.

Diese Argumentation hat einen medialen blinden Fleck. Sie rechnet nicht mit dem Internet als nahezu unerschöpflicher Quelle legal (!) frei (!!) zugänglicher Inhalte. Stillschweigend wird offenbar vorausgesetzt, dass es für Forschung und Lehre NUR in Verlagen erschienene Inhalte gibt, die entweder beim Verlag erworben oder über eine Schrankenbestimmung "schmarotzt" werden. Diese Sicht ist vollkommen naiv und für die Verlage sogar gefährlich.

Der Drei-Stufen-Test geht auf die Revidierte Berner Übereinkunft von 1967 (!) zurück. Er ist eine rechtliche Vorgabe, die Rechtsfolgen jedoch an empirische Sachverhalte knüpft. Aus der Perspektive der Vor-Internet-Zeit waren für wissenschaftliches Arbeiten relevante Inhalte tatsächlich nahezu ausschließlich Verlagsinhalte. Vor dem Hintergrund ihrer alternativlosen Nutzung war eine binäre Argumentation (Schranke oder Verlangsangebot), wie sie jetzt wieder vorgebracht wird, lange Zeit absolut schlüssig.

Wenn aber nach über 20 Jahren Internet immer noch so argumentiert wird, sollte man misstrauisch werden. Der Drei-Stufen-Test besagt nur, dass eine Schranke die normale Nutzung nicht beeinträchtigen darf. Das bedeutet jedoch nicht, dass damit nur eine liberale Schrankenregelung problematisch wird.

Auch eine abschreckend streng formulierte Schranke kann zu einer Beeinträchtigung der normalen Nutzung führen, vor allem dann, wenn für die digital arbeitende Forschung und Lehre verstärkt freie Netz-Ressourcen eingesetzt werden können. Dann werden nicht nur keine Geschäfte mit digitalen Verlagsangeboten gemacht, auch die gedruckten Bücher der Verlage werden keine Käufer mehr finden, weil sie einfach nicht mehr relevant sind.

Und dort, wo es keine Netzangebote als Alternative zu bestimmten Verlagsinhalten gibt, werden Lehrende meist bei den regelmäßig an den Hochschulen vorhandenen großen eBook-Paketen der internationalen Konzernverlage fündig. Der mittelständische deutsche Wissenschaftsverlag kommt dann einfach nicht mehr vor. Ist das gewollt?

Wendet man den Drei-Stufen-Test also nicht ideologisch, sondern medienwissenschaftlich aufgeklärt an, so darf man angesichts der freien Alternativen im Netz und der mächtigen digitalen Angebote der Großverlage um des Überlebens der kleinen und mittleren Verlage willen einen Vorrang von Verlagsangeboten gerade NICHT ins Gesetz schreiben. Der Effekt wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade die erhebliche Beeinträchtigung der normalen Verwertung, die man doch verhindern wollte.

Die Bundesregierung hat im Entwurf des UrhWissG in dieser Frage einen sehr vernünftigen Ausgleich gefunden. Es sollen alle (!) Werke leicht (!) digital nutzbar sein, womit man gerade den Lehrbüchern einen Absatzmarkt bei den Studierenden erhält. Für häufig genutzte Literatur wird eine Hochschule ohnehin immer mit den Verlagen Lizenzen aushandeln, die ganze Werke dauerhaft sichtbar machen.

Ja sind denn die Verlage doof, wenn sie einen Verlagsvorrang fordern? So könnte man jetzt fragen.

Die Anwort ist recht simpel: Das Internet als Distributionskanal stellt das gewohnte Geschäftsmodell der Verlage massiv in Frage. Zugleich setzen neue mediale Formate (Lernvideos und dergleichen) das klassische Buchformat unter Druck. So gesehen suchen gerade die kleinen Verlage hektisch nach dem dicken roten Knopf, um das Internet abzuschalten. Da es diesen Knopf nicht gibt, suchen sie ihr Heil darin, sich im Urheberrecht eine exklusive Position zu sichern.

Verlage können natürlich einfordern, dass ihre Angebote Vorrang haben. Verlage können auch verlangen, dass die Schrankennutzung einzelfallbezogen vergütet wird. Der Gesetzgeber könnte beides zwingend vorschreiben. Genau dafür wird gerade massiv Lobby-Arbeit gemacht. Das Dumme ist nur: Der Gesetzgeber kann nicht gewährleisten, dass Verlagsinhalte in Lehre und Forschung auch weiterhin genutzt werden. Die binären Zeiten sind unwiederbringlich vorbei.

19. Mai 2017
von Eric W. Steinhauer
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Die FAZ und das Urheberrecht, oder: Wie eine Zeitung sich abschafft.

Wir sind es seit Jahren gewohnt, dass in der FAZ bevorzugt diejenigen Stimmen zu Wort kommen, die einer Anpassung des Urheberrechts an die Erfordernisse einer durch das Internet geprägten Informations- und Wissensgesellschaft kritisch gegenüberstehen.

Wir sind es auch gewohnt, dass mit Roland Reuß und seinem Freundeskreis die immer gleichen Stimmen mitunter sehr schräge Debattenbeiträge im Feuilleton der FAZ platzieren. Dass damit Ansichten eine Öffentlichkeit bekommen, die ihrer tatsächlichen Relevanz nicht entspricht, kann man auch verschmerzen. Der aufmerksame Zeitungsleser wird schon merken, dass es immer der gleiche akademische Mitarbeiter und außerplanmäßige Professor aus Heidelberg ist, der im Namen DER Wissenschaft seine fundamentale Digitalkritk vorbringt.

Alles das gehört zu einer öffentlichen Debatte. Dafür sind Zeitungen da. Und selbstverständlich gehört in Zeiten des digitalen Wandels auch Digitalkritik dazu. Im Grunde haben wir von guter Digitalkritik sogar eher zu wenig als zu viel.

Wenn jetzt aber die FAZ als Zeitung in Gestalt ihrer Geschäftsführer und Herausgeber selbst Position in der aktuellen Urheberrechtsdebatte bezieht, ganz explizit Partei ergreift und offene Briefe an Bundesrat und Bundestag adressiert, erreicht die Diskussion ein neues Level.

Die FAZ sieht ihre Arbeit als Zeitung gefährdet und die Pressefreiheit in Gefahr. Das sind starke Worte. Der Wert der Sache aber, um die es geht, rechtfertigt diese Worte. Nur, geht es hier tatsächlich um die Sache? Ja, tut es. Nur anders als die FAZ sich das vermutlich vorstellt.

Der offene Brief der FAZ, den sie praktischerweise in ihrer eigenen Zeitung und damit im Kanal ihrer eigenen Reichweite deutlich sichtbar platziert, ist inhatlich falsch und irreführend (Warum das so ist, kann man hier nachlesen). Das freilich kann nur erkennen, wer über solide urheberrechtliche Kenntnisse verfügt und die Reformdebatte der letzten Jahre aufmerksam begleitet hat. Das können nur wenige. Sehr wenige.

Und hier sind wir beim Kern des Problems: Wir brauchen in den politischen Diskussionen und öffentlichen Debatten Akteure, denen man vertrauen kann. Akteure, die mit Sachverstand den Lauf der Dinge beobachten, ihn kenntnisreich kommentieren und sachlich zutreffend einordnen. Wenn von der Bedeutung der Presse für die Demokratie die Rede ist, dann geht es genau darum. Das unterscheidet gute Zeitungen von Informationen im Internet, die nachzuprüfen nicht immer leicht ist, jedenfalls Zeit erfordert. Auch diese Zeit hat nicht jeder. Daher vertrauen wir bestimmten Zeitungen und Personen, unterstellen ihnen Sachkunde und nehmen ernst, was sie sagen. Ohne solche Akteure könnten öffentliche Debatten in der Demokratie nicht funktionieren und würden in reines "Meinen" abgleiten. Die Risiken dieser Entwicklung liegen allen vor Augen.

Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich, wenn eine Zeitung wie die FAZ, die hierzulande zu den Garanten für einen seriösen Journalismus gehört und insoweit in gewisser Hinsicht "systemrelevant" ist, um einen kleinen Lobbyerfolg in der Gesetzgebung zu verbuchen ihre Leserinnen und Leser mit der ganzen Wucht ihrer journalistischen Autorität desinformiert.

Ich stimmt den Verfassern des offenen Briefes zu: Es gibt gerade tatsächlich eine Gefahr für eine funktionierende Presse in Deutschland. Diese Gefahr sitzt allerdings nicht in Berlin, sondern in Frankfurt. Die FAZ sollte sich sehr ernsthaft fragen, welche Funktion sie in der Öffentlichkeit künftig spielen will. Mein Vertrauen in ihre Berichterstattung ist jedenfalls nachhaltig erschüttert. Wie kann ich künftig dort, wo ich mich selbst nicht gut auskenne, noch auf die Analysen und Berichte eines Blattes vertrauen, das jahrzehntelang ein unbestritter Garant für seriösen Journalismus war?

Wer angesichts leicht verfügbarer Konkurrenz im Internet überleben will, dem sollte sein Markenkern viel zu wertvoll sein, um ihn als Einsatz im Berliner Lobby-Zirkus leichtfertig zu verschleudern.

19. Mai 2017
von Eric W. Steinhauer
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Die Urhberrechtsmärchen der FAZ zum geplanten UrhWissG

Die FAZ hat sich in einer ungewöhnlichen Aktion mit zwei großen, im eigenen Blatt publizierten Anzeigen mit dramatischen Worten an die Mitglieder des Bundesrates und des Bundestages gewandt. Sie sieht die Presselandschaft in Deutschland, deren Bedeutung für eine funktionierende Demokratie außer Frage steht, durch die mit den von der Koalition beschlossenen Wissensgesellschafts-Urheberrechtsgesetz (UrhWissG) geplanten Reformen im Wissenschaftsurheberrecht massiv gefährdet.

In ihrer an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gerichteten Anzeige, die von den Herausgebern und den Geschäftsführern der FAZ unterzeichnet wurden, werden vor allem zwei Punkte kritisiert. Beide lohnen ein näheres Hinsehen. Das Ergebnis freilich wird der Zeitung aus Frankfurt, die den Anspruch hat, DAS führende Organ des deutschen Qualitätsjournalismus zu sein, vermutlich nicht gefallen.

Die Gratis-Nutzung einzelner Artikel

Es wird kritisiert, dass die Nutzung einzelner Beiträge vollkommen frei sein soll. Wer sich nur für einzelne Beiträge bzw. Texte aus der Zeitung interessiert, werde künftig (!) nicht mehr auf den Erwerb der Zeitung angewiesen sein: "Er kann die einzelnen Beiträge nutzen, ohne die Zeitung zu kaufen." Die freie Nutzung für Unterricht, Lehre und Forschung, Bibliotheken, Archive und den Dokumentenversand sei demgegenüber auf nur 15% der Werke begrenzt "im Gegensatz zur extrem offenen Regelung für Zeitungen."

Durch den Hinweis auf die zulässige Nutzung von § 15% sonstiger Werke ergibt sich, dass es hier offenbar um § 60a im UrhWissG geht. Die kritisierte Passage, zu finden in § 60a Abs. 2, lautet:

"Abbildungen, einzelne Beiträge aus derselben Zeitung oder Zeitschrift, sonstige Werke geringen Umfangs und vergriffene Werke dürfen ... vollständig genutzt werden."


Die Herausgeber und Geschäftsführer der FAZ behaupten, da sie ja ein Szenario beschreiben, das künftig gelten soll, dies sei neu.

Neu freilich ist hier gar nichts! § 60a soll den bisherigen, bereits im Jahr 2003 eingeführten § 52a UrhG ersetzen. Dort steht in Abs. 1:

"Zulässig ist ... einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften zur Veranschaulichung im Unterricht ... oder ... für eigene wissenschaftliche Forschung öffentlich zugänglich zu machen"


Das ist in der Sache NICHTS ANDERES als was nun in § 60a Abs. 2 vorgesehen ist. Da jetzt der Gesetzgeber für die Nutzung etwa von Büchern zum Schutz von Verlagen eine ausdrückliche Grenze bei 15% zieht, war eine Klarstellung, dass Zeitungsartikel weiterhin vollständig genutzt werden können, notwendig. Sie entspricht in der Sache jedoch der bereits jetzt erlaubten Nutzung "einzelner Beiträge".

Hingewiesen sei noch darauf, dass nach geltendem Recht "einzelne Beiträge" aus Zeitungen von jedermann, auch für kommerzielle Zwecke (!), frei kopiert werden oder im Wege des Dokumentenversandes von Bibliotheken angefordert werden können. Das ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 S. 1 Nr. 4a, 53a Abs. 1 S. 1 UrhG.

Wie im bisherigen Recht ist auch künftig die Nutzung über § 60a UrhWissG angemessen über eine Verwertungsgesellschaft zu vergüten. Das ergibt sich aus § 60h Abs. 1 UrhWissG. Wirklich gratis ist nach neuen Recht nur, wenn ein Zeitungsartikel etwa im Rahmen einer Weihnachtsfeier in der Grundschule den Anwesenden vorgelesen wird, § 60h Abs. 2 Nr. 1 UrhWissG. Ob das aber das "primäre Geschäftsmodell" einer Zeitung wie der FAZ "ernsthaft gefährdet", darf mit Recht bezweifelt werden.

Vom ersten Kritikpunkt der Anzeigen bleibt bei Licht besehen NICHTS übrig. Die kritisierte neue Rechtslage, die es durch entschlossenes Handeln der Parlamentarier gleichsam als Nothilfe für die massiv gefährdete Pressefreiheit abzuwehren gilt, entspricht exakt dem seit 2003 geltenden Recht.


Das "steuerfinanzierte Online-Archiv" der Nationalbibliothek


Der zweite Kritikpunkt zielt auf die in einem neuen § 16a Abs. 2 des Nationalbibliothekgesetzes (DNBG) geplante Befugnis der Deutschen Nationalbibliothek (DNBG), ein öffentlich zugängliches Archiv freier Online-Quellen anzubieten, um Zitate eben dieser, ihrer Natur nach flüchtigen Online-Quellen für Wissenschaft und Forschung zu sichern und nachvollziehbar zu machen. Dieses Archiv legt die Bibliothek nicht von sich aus an, sondern auf Bitten von Nutzern aus Wissenschaft und Forschung. Es dürfen zudem nur solche Quellen gespeichert werden, deren Zugänglichkeit NICHT dauerhaft anderweitig gewährleistet ist. 

Da Presseerzeugnisse in gedruckter und elektronischer Form vollumfänglich dem Pflichtexemplarrecht unterliegen und u.a. von der Deutschen Nationalbibliothek im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages regulär gesammelt und erschlossen werden, ist die Zugänglichkeit von zitierten Zeitungsartikeln wenigstens über die Pflichtexemplarbibliotheken dauerhaft gesichert, so dass frei zugängliche Zeitungsartikel nach dem geplanten § 16a Abs. 2 DNBG überhaupt NICHT gespeichert oder von der DNB frei zugänglich im Netz angeboten werden dürfen.


Damit ist auch an dem zweiten Kritikpunkt der FAZ ist bei näheren Hinsehen NICHTS dran.


Öffentliche Selbstdemontage einer Qualitätszeitung


Verwundert muss man feststellen, dass der Brandbrief der FAZ vollkommen substanzlos ist. Das freilich kann nur erkennen, wer sich im geltenden Urheberrecht gut auskennt und den Gesetzentwurf der Bundesregierung gründlich und aufmerksam gelesen hat.

Für sich betrachtet, klingen die in dem Brief angesprochenen Sachverhalte vor allem deshalb dramatisch, weil sie mit der ganzen Autorität einer gerade bei politische Entscheidern hoch angesehen Zeitung vorgebracht werden. Dass dahinter entweder eine Recherche auf dem Niveau eines Volontärs in der ersten Praktikumswoche oder sogar eine von ganz anderen als den im Brief genannten Verlegerinteressen getriebene Lobbykampagne steckt, hätte man gerade der FAZ nicht zugetraut. 

Der Brief der Herausgeber und Geschäftsführer ist daher tatsächlich alarmierend. Es ist um die für die Demokratie wichtige Presse und ihre in dem Brief auch richtigerweise herausgestellte Funktion, ein unabhängiges Medium der freien Meinungsbildung zu sein, nicht gut bestellt, wenn in der Herzkammer des deutschen Qualitätsjournalismus eine gezielte Desinformationskampagne gestartet wird. Dabei werden das Renommee der Zeitung und die urheberrechtliche Ahnungslosigkeit des Publikums geschickt miteinander verbunden. Mit einem "klugen Kopf" hinter der FAZ wird offenbar nicht mehr gerechnet!

Zur Ehrenrettung der FAZ könnte man jetzt nur noch anführen, dass die Unterzeichner des Briefes wohl von Amateuren beraten worden sind, die vom Urheberrecht keine Ahnung haben. Für den Anspruch, eine Qualitätszeitung zu sein, ist das freilich auch nicht gerade schmeichelhaft.
Ich will aber versöhnlich schließen und darauf hinweisen, dass das geplante Gesetz künftig sogar eine schöne Privilegierung von Zeitungen und Verlagen enthält, weil im Gegensatz zum jetzigen Recht der Dokmentenversand durch Bibliotheken für kommerzielle Zwecke, also für Unternehmen und Gewerbetreibende, vollständig verboten werden soll! Das steht im geplanten § 60e Abs. 5 UrhWissG. Es werden also rosige Zeiten für die Online-Archive der Zeitungen anbrechen, weil künftig kommerzielle Nutzer nur noch über die Zeitungsverlage bequem und zuverlässig an Pressebeiträge kommen können. 

Vielleicht ist der Widerstand gegen des UrhWissG mit Blick auf das "primäre Geschäftsmodell" einer Tageszeitung doch keine so gute Idee ...