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Bibliothekarische Stimmen. Independent, täglich.

23. Juni 2009
von Skriptorium
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Kant und Romanleserinnen

"Vergeßlichkeit ( obliviositas ) hingegen, wo der Kopf, so oft er auch gefüllt wird, doch wie ein durchlöchertes Faß immer leer bleibt, ist ein um desto größeres Übel. Dieses ist bisweilen unverschuldet; ...

Aber oft ist es doch auch die Wirkung einer habituellen Zerstreuung, welche vornehmlich die Romanleserinnen anzuwandeln pflegt. Denn weil bei dieser Leserei die Absicht nur ist, sich für den Augenblick zu unterhalten, indem man weiß, daß es bloße Erdichtungen sind, die Leserin hier also volle Freiheit hat, im Lesen nach dem Laufe ihrer Einbildungskraft zu dichten, welches natürlicherweise zerstreut und die Geistesabwesenheit (Mangel der Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige) habituell macht: so muß das Gedächtniß dadurch unvermeidlich geschwächt werden. -

Diese Übung in der Kunst die Zeit zu tödten und sich für die Welt unnütz zu machen, hintennach aber doch über die Kürze des Lebens zu klagen, ist abgesehen von der phantastischen Gemüthsstimmung, welche sie hervorbringt, einer der feindseligsten Angriffe aufs Gedächtniß."

Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 185 (nach der Akademie-Ausgabe).
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