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11. Februar 2009
von Wissenschaftsurheberrecht
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Open Access „unsittlich und verwerflich“?

In der FAZ hat der Heidelberger Editionswissenschaftler Roland Reuß einen Artikel zu Open Access publiziert. Darin kritisiert er die Bemühungen der deutschen Wissenschaftsorganisationen und der Hochschulleitungen zur Beförderung von Open Access als "heimliche technokratische Machtergreifung". Wissenschaftler, die Open Access unterstützen werden als "unkundige und hilflose Opfer" bezeichnet. Eine Forschungspolitik, die Fördergelder mit Open Access verknüfe, sei "unsittlich und verwerflich". Überhaupt sei Open Access nichts weiter als Ideologie.

Wer so schreibt, sieht natürlich auch gleich das Abendland untergehen, denn wer das "unveräußerliche Urheberrecht" der Autoren antaste, der lege die "Axt an die Wurzel dessen, was das alte Europa einmal 'selbständiges Individuum' genannt hat."

Nun geht ja bekanntlich das Abendland alle zwei Monate unter. Kein Grund also zur Aufregung, wohl aber zur kritischen Lektüre von Reußens Artikel, der bei FAZ.net dankenswerterweise gratis open access aufliegt.

Link zum Text.

Reuß setzt bei der Publikationsfreiheit der Wissenschaftler an und kritisiert die Förderung von Open Access, die natürlich auf Kosten der berühmten "mittelständischen Wissenschaftsverlage" geht, an drei Fronten:

Open Access sei teuer, denn die Kosten der Publikation würden einfach auf die Autoren abgewälzt.

Open Access führe zu typographischen Massengräbern auf den Hochschulschriftenservern, auf denen - was verdächtig ist - gerade die mittelmäßigen Dissertationen liegen.

Open Access fördere einen staatsmonopolistischen Verwertungskreislauf, wenn man darauf dränge, mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschung auch öffentlich zugänglich zu machen.

Konkret geht Reuß dann auf die Praxis an der Universität Konstanz ein, wo die Hochschulbibliographie mit dem Volltextserver gekoppelt wird.

Reuß sieht darin keinen Sinn: "Warum überhaupt die sinnvolle Einrichtung einer Bibliographie mit dem Beliefern eines Volltextservers gekoppelt wird, bleibt schleierhaft."

Kritisiert wird auch die Praxis in Zürich:
"...Budgets sind funktional gekoppelt an die Veröffentlichungen, die, unter Open-Access-Bedingungen, auf dem Uniserver kostenlos zur Verfügung gestellt werden ('Wissenschaftliche Publikationen werden in den Akademischen Berichten nur berücksichtigt, wenn sie in Zora erfasst wurden'). Damit kommen die Autoren in eine verdammungsvolle Situation. Entweder schwenken sie auf Universitätslinie ein, dann wird kein Verlag mehr ein Interesse daran haben, sie zu drucken. Oder sie stellen ihre Dokumente nicht zur Verfügung - und dann werden sie mittelfristig entweder selbst nicht genug Gelder zugewiesen bekommen oder dem Druck ihrer Kollegen ausgesetzt sein, an deren Institut die Budgetmittel fehlen."

Reuß betont demgegenüber die Freiheit des Wissenschaftlers, sein "Recht, als Wissenschaftler im Rahmen staatlich finanzierter Einrichtungen frei zu forschen und zu lehren und eben auch darüber zu bestimmen, wo das erscheinen soll, was man erdacht und erforscht hat; gerade auch unter Verwertungsgesichtspunkten."

Die Artikel von Reuß endet u.a. mit einer Kritik am Erwerbungsverhalten der Hochschulbibliotheken:

"Das Verhältnis von Buch- und Digitalienanschaffung in Universitätsbibliotheken ist wieder auf ein vernünftiges und ausgewogenes Maß zu bringen, das Nachhaltigkeit als zentrale Größe anerkennt, nicht modischen Schnickschnack."

Man ist nach der Lektüre etwas ratlos. Zunächst sind einige Behauptungen schlicht falsch oder wenigstens irrig.

Gerade im Bereich der Hochschulschriften, aber auch bei wissenschaftlichen Sammelbänden leisten nicht unbedingt die Verlage, sondern aus Steuermitteln finanziertes Personal an den Hochschulen die lektorierenden und auch formatierenden Tätigkeiten.

Der mittelständische Wissenschaftsverlag ist mitnichten ein Problem, es sind die agressiven internationalen Großverlage in den Naturwissenschaften. Und wo vom Urheberrecht die Rede ist: Es sind gerade die mittelständischen Verlage, die ihren Autoren recht großzügig eine Zweitpublikation im Internet gestatten, weil sie sich digitale Rechte erst gar nicht einräumen lassen.

Nur kurz darauf hingewiesen sei, dass eine freie Publikation im Internet für wissenschaftliche Nischenliteratur absatzfördernd ist.
Ein kleines Zahlenbeispiel.

Dass gerade ein Editionswissenschaftler, der um den Wert eines gut gestalteten Buches bei der Rezeption umfangreicher Texte wissen muss, glaubt, ein umfangreicher Volltext im Netz ersetze das gedruckte Buch, kann hier nur verwundern.

Der Volltext ersetzt die punktuelle Lektüre und bietet den Vorteil der Volltextrecherche. Die intensive Auseinandersetzung mit dem gedruckten Text, dem Buch also, ersetzt er nicht. Das lehrt schon die Erfahrung, dass man wichtige Bücher gerade nicht in der Bibliothek ausleiht, sondern sie kauft und mit dem Bleistift in der Hand durcharbeitet. Warum sollte das bei Volltexten im Internet anders sein?

Die Rede von der Freiheit des Wissenschaftlers, zu publizieren, wo er will, macht nur in den Fächern noch Sinn, wo es keine Dominanz von Impact-Faktoren gibt. In vielen Bereichen der Naturwissenschaften ist diese Freiheit nur eine theoretische Größe. Die daraus resultierenden Folgen, nämlich Zeitschriften mit Monopolstellung und einem Geschäftsgebahren am Rande der Sittenwidrigkeit, ist dem Germanisten Reuß aus eigener Erfahrung zu kennen, wohl erspart geblieben.

Die Kritik am Vorgehen der Züricher Kollegen übersieht, dass es bei der Evaluation von Forschungspublikationen um bereits veröffentlichte Werke geht, die im Volltext einzustellen sind. Der Einwand, dass diese Texte kein Verlag mehr drucken würde, geht an der Sache vorbei. Sie sind nämlich schon gedruckt.

Fast schon erheiternd ist die Ratlosigkeit, mit der Reuß die Verknüpfung von Bibliographie und Volltextserver betrachtet. Es ist ja auch sehr praktisch, in einer bewährten Bibliographie zu recherchieren, danach den Bibliothekskatalog zu bemühen, um die Signatur des gewünschten Werkes zu ermitteln, das Bibliotheksgebäude aufzusuchen, das Buch auszuheben, den Text - die Rede ist hier von einem Aufsatz - zu kopieren und dann intensiv zu studieren, anstatt mit zwei Mausklicks den Volltext auf dem Bildschirm zu haben und sogleich mit dem Text digital zu arbeiten oder ihn zur intensiven Lektüre (wie ich es mit Reußens Text gemacht haben) auszudrucken. Man nennt das Vermeidung von Medienbrüchen. Bei den meisten Bibliotheksnutzern kommt sowas gut an.

Selbst bei umfangreichen Monographien bietet der Volltext die sofortige Gelegenheit, die Relevanz der Publikation für die eigene Arbeit zu beurteilen. Der Gang in die Bibliothek - oder zum (Internet)Buchhändler (!!) - wird so effektiver.

Nicht weniger lustig ist der Ruf nach einer Umstellung im Erwerbungsverhalten der Bibliotheken, weniger Digitales, mehr Bücher. Da kann man nur sagen: Thema verfehlt! Die kostenpflichtige Lizenzierung von elektronischen Ressourcen, Digitalia wie Reuß sagt, ist ja nun gerade nicht Open Access, sondern das ziemliche Gegenteil.

Insgesamt ist zu sagen, dass die Diskussion um Open Access erheblich differenzierter geführt werden muss. Je nach Fachkultur und Publikationstyp hat Open Access einen völlig unterschiedlichen Stellenwert, eine je andere Berechtigung und Perspektive. Der Beitrag von Reuß, eine Stimme aus dem Lager einer konservativen Buchwissenschaft, kann sicher nicht den Anspruch erheben, das Phänomen Open Access insgesamt - auch und gerade in den Naturwissenschaften - in den Blick genommen zu haben. Würde man Reuß so verstehen, der Ideologievorwurf fiele auf ihn selbst zurück.