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Garderobenpflicht: Haltung zeigen

Wie schon andernorts gesagt:  Das Thema Garderobenpflicht hat mich im Moment in seinem Bann. Ist doch langweilig? Weit gefehlt, es ist eine erstklassige Chance, seine bibliothekarische Haltung zu reflektieren und zu definieren. Los geht’s:Im Moment trage ich fast täglich David R. Lankes’ kiloschweren “Atlas of  New Librarianship” auf dem Arbeitsweg mit mir herum und lese das Werk des US-amerikanischen Bibliothekswissenschaftlers mit großem Gewinn, weil ich darin einen hervorragend beschriebenen theoretischen Rahmen für praktisches bibliothekarisches Handeln finde (vgl. Lankes, R. David 2011. “The atlas of new librarianship“  Cambridge, Mass: MIT Press.)

Eine von Lankes’ Thesen ist, dass sich eine Bibliothek in einer ständigen Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft, der sie dient, über die von ihr angebotenen Dienste befindet, und dass sich die Informationsdienste auf Grundlage dieser impliziten und expliziten Gespräche weiter entwickeln muss. Einen sehr expliziten Gesprächsball habe ich kürzlich in der Mensa aufgefangen: Das dort ausgelegte Faltblatt einer hochschulpolitischen Gruppe, deren erste Forderung nach potenziellem Einzug in das StuPa der Wegfall der Garderobenpflicht in der Zentralbibliothek unseres Bibliothekssystems ist. In die selbe Kerbe haben dann noch die Studierenden geschlagen, mit denen ich im Rahmen eines Workshops unter präsidialer Begleitung über die Dienste der Bibliothek diskutiert habe. Deutlicher kann ein Aufruf zum Überdenken der gängigen Praxis in diesem Punkt also nicht sein.

Die Lage ist folgende: In zwei Teilbibliotheken gibt es schon seit langer Zeit keine Garderobenpflicht mehr. Studierende, die sowohl die Teilbibliotheken als auch die Zentralbibliothek benutzen, beschweren sich in schöner Regelmäßigkeit über die unterschiedliche Handhabung in den verschiedenen Häusern und, wenn man ehrlich ist, auch bei der Auslegung der “Laptoptaschen sind erlaubt”-Regel in der Zentralbibliothek. Dass solche Inkonsistenzen ein No-Go in der Benutzung sind, muss nicht extra betont werden – auch wenn ich denke, dass MitarbeiterInnen, die Regeln im Sinne von BenutzerInnen auslegen ausdehnen, das Fleisch und Blut von Bibliotheken sind.  Wie auch immer: Verschärft wird die Situation zusätzlich dadurch, dass die angebotenen Schließfächer nicht ausreichen bzw. mit hohem Personal- oder Kostenaufwand entweder regelmäßig kontrolliert oder auf eine andere technische Basis gestellt werden müssten, um Dauerbelegung zu vermeiden. In Karlsruhe, Darmstadt und Hannover sind zum Beispiel Ausgabeautomaten für Schließfach-Schlüssel im Einsatz, die mit dem Ausleihsystem verbunden sind, so dass nach Ablauf der Leihfrist für ein Schließfach kostenpflichtige Mahnungen produziert werden können. Alternativ kann auf Schlösser mit RFID oder MiFare-Chips umsatteln und die Lösung so einrichten, dass eine Öffnung nach Ablauf der definierten Belegungsfrist nicht mehr geöffnet werden können, so dass die säumige Kundschaft auch hier zur Kasse gebeten werden kann. Mit anderen Worten: Diese Lösungen kann man sich wegen der Investitionskosten nicht einfach aus dem Ärmel schütteln, das Wintersemester mit den angekündigten Massen steht vor der Tür und was also tun, vor allem vor dem Hintergrund der Rufe nach dem Wegfall der Garderobenpflicht?

Erstmal fragen, was andere machen, dachte ich mir. Interessanterweise sind die Probleme mit den Schließfächern auch andernorts ein Motor für das Hinterfragen der Garderobenpflicht. Ich weiß inzwischen von zwei weiteren (nicht kleinen Bibliotheken) deren Hauptgrund für den Wegfall der Garderobenpflicht eben jenes ganz praktische Erwägen war. Eine Antwort auf meine Anfrage an InetBib kam von einem Kollegen nordamerikanischer Herkunft, der mich daran erinnert hat, wie seltsam die Garderobenpflicht aus der transatlantischen Perspektive anmutet. In einem Artikel über Buchsicherungsanlagen, den ich im Kontext meiner Überlegungen gelesen habe, wurde als eine Methode zur Sicherung von besonders wertvollen Beständen das Verbot von Mänteln und anderen “bulky possessions” angepriesen (vgl. Wilt, Thomas B. 1996. “The use of electronic book theft detection systems in libraries.” Journal of Interlibrary Loan, Document Delivery & Information Supply 6, no. 4: 45).  Die Garderobenpflicht ist demnach eine Standard-Einstellung in deutschen (vielleicht auch europäischen?) Bibliotheken, aber andernorts in der Welt eben eher die Ausnahme als die Regel.

Warum eigentlich Garderobenpflicht? Das fragt das geneigte Bibliothekspublikum auch mitunter mit Verweis auf die vielfach im Einsatz befindlichen Buchsicherungsanlagen.  Selbige gibt es – auch das ein Ergebnis meiner Recherchen, ich habe von so was ja eher wenig Ahnung – seit den 1960er Jahren. Über ihre Effektivität kann man stapelweise Literatur finden. Wenn ich Zeit hätte, die zu lesen, würde ich gerne herausfinden, ob es Bibliotheken gibt, die bei der Einführung von Buchsicherungsanlagen ihre Garderobenpflicht aufgehoben haben. Meine These ist: Das eine hängt in der bibliothekarischen Wahrnehmung mit dem anderen nicht zusammen, es gibt tief sitzende Vorbehalte gegen einen liberalen Umgang mit dem Thema.

Es haben mir zwei Kollegen geantwortet, die gerne die Garderobenpflicht abgeschafft hätten, es aber wegen großer interner Widerstände nicht getan haben.  Warum hängen wir BibliothekarInnen so an dieser Regel? Sicherheitsaspekte allein können es doch kaum sein, denn wir haben Buchsicherungsanlagen. Ich verstehe das Argument, dass Fussbeläge, Möbel und Raumklima durch potenziell nasse Bekleidung mehr strapaziert werden – wer will schon, dass einem ein sorgloser Umgang mit steuerfinanzierten Gebäuden und Ausstattungen vorgeworfen wird?

So richtig ans Eingemachte geht es bei den Diskussionen aber dann, wenn durch die Abschaffung der Garderobenpflicht das “Ende des Lernorts Bibliothek” gesehen wird: Die resultierende Unaufgeräumtheit einerseits und die erwartete Lärmbelastung durch Herumkramen, Öffnen und Schließen von Taschen und das (heimliche) Entnehmen und Verzehren von Schokoriegeln etc. werden als unzumutbar empfunden.  Und in der Tat: Genau das wird vermutlich passieren, und vermutlich wird auch dann und wann die diensthabende Auskunftsbibliothekarin als Schiedsrichterin herbeigerufen, wenn es im Publikum zu Konflikten kommt.  Dass das dann wenig Freude bereitet, kann ich verstehen, aber: Solche Situationen gehören zu unserem Job.

Was meiner Ansicht nach aber auch dazu gehört ist das konsequente und ehrliche Bemühen darum, eine Bibliothek so einladend wie möglich zu gestalten und den Besuch so einfach wie es eben geht. Dazu gehört für mich gerade, einen Moment lang innezuhalten und mich zu fragen, ob die Garderobenpflicht in einer normalen Universitätsbibliothek ohne kostbare Sonderbestände weiterhin zeitgemäß ist. Zeitgemäß deshalb, weil ich denke, dass wir auch an unserem Bild von Benutzerinnen und Benutzern arbeiten sollten – was die direkte Überleitung zu meinem Hauptargument gegen die Garderobenpflicht ist: Wenn eine den ganzen Tag lang in der Bibliothek arbeitet, hat sie dann nicht von sich aus ein Interesse daran, Überflüssiges in einem Schließfach zu deponieren? Wenn es draußen regnet in Strömen, kommt einer dann nicht von selbst darauf, den nassen Schirm in bereitgestellte Schirmständer zu stellen? Wenn eine unbedingt Ruhe braucht, geht sie dann nicht gern in die Zone der Bibliothek, in der wir um Benutzung ohne Laptops und Taschen bitten? Ich erlebe einige unserer Regeln als bevormundend, und die Garderobenpflicht ist eine der Regeln, bei denen ich glaube, dass wir damit die Selbstbestimmtheit unserer BenutzerInnen beeinträchtigen, ohne dabei allzu viel zu gewinnen. Wir denken oft von unseren BenutzerInnen als Menschen, die potenziell gegen jede Regel verstoßen – die strengen Schilder zur Einhaltung des Radierverbotes sind ein weiteres Beispiel (zu dem mir heftige Anstreichungen in einem bibliothekarischen Fachbuch unseres Bestandes heitere Genugtuung geliefert haben, aber das nur am Rande).

Ich glaube, dass unsere BenutzerInnen eine relativ klare und sehr ähnliche Vorstellungen davon haben, wie man sich in Bibliotheken zu verhalten hat.  Ich glaube auch, dass man diese in Form von Spielregeln verschriftlichen und als Richtschnur kommunizieren könnte – dass so was dann richtiggehend Marketing für Bibliotheken sein kann, hat Ursula Georgy aufgezeigt (Georgy, Ursula. 2010. “Verbote als Marketinginstrument in Bibliotheken.” Bibliothek Forschung und Praxis 34, no. 3: 311-322). Ich teile die Ansicht eines Kollegen, der die Garderobenpflicht in seinem Haus aufgehoben hat: “Davon geht das Abendland nicht unter”. Ich bin gespannt auf den weiteren Verlauf des Diskussionsprozesses, den Bibliotheken intern dazu durchmachen. Die von mir angestoßene  Diskussion wird intern gerade auf einer Wandzeitung geführt. Und ich hoffe – unabhängig von Ausgang der Entscheidungsfindung – dass wir über dieses Thema zu einer Diskussion über unser Bild von BenutzerInnen kommen können und unser Verständnis von einladenden Bibliotheken.

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