Im vergangenen Frühjahr besuchte ich in Dublin nicht nur das Trinity College mit seinem beeindruckenden Long Room, sondern auch Marsh’s Library, die älteste public library Irlands, sowie die Chester Beatty Library, eine herausragende Sammlung kunstvoll gearbeiteter Bücher und Buchutensilien. Seitdem treibt mich die Frage um, was es auf sich hat mit dem aus meiner Sicht entscheidenden Unterschied zwischen Museen und Bibliotheken: Im Museum werden Bücher in Glasvitrinen aufbewahrt, wir können zumeist nur die aufgeschlagenen Seiten oder Umschläge bewundern. In einer Bibliothek, die wir als NutzerInnen betreten, können wir jedoch die Bücher in die Hand nehmen, uns Seite für Seite mit ihren Inhalten vertraut machen. Gerade vor dem Hintergrund der Diskussion der E-Books stellt sich die Frage, welchen Unterschied das materielle Buch macht. Brauchen wir überhaupt noch Bücher zum Anfassen?
In Olten, in der sogenannten Halle 20 der Fachhochschule Nordwestschweiz, habe ich letztes Jahr die ‚Bibliothekstapete‘ entdeckt.
Es handelt sich dabei um eine Wand in einem Arbeitsraum der Hochschule nahe deren damaligen Bibliothek, dessen zwei gegenüberliegende Wände mit einer gemalten Bibliothek geschmückt sind. Beim Betreten des Raumes hat man kurzzeitig den Eindruck, einen Bibliotheksraum zu betreten. Ich stelle mir vor, dass es das Ziel dieser Gestaltung ist, eine bibliotheksähnliche Atmosphäre zu erhalten im Sinne eines Environment Behavior Settings verbunden mit den entsprechenden gewünschten Verhaltensformen der NutzerInnen dieses Raumes: Es wird geschwiegen und konzentriert gearbeitet. Kann das funktionieren? Welchen Unterschied machen Bücher in einer Bibliothek? (Diese Frage ist nicht neu, ich hatte sie bereits im Blogartikel “Wenn der Himmel voller Bücher hängt” angerissen).
Ortswechsel: Trinity College in Dublin. Ich konnte die Bücher riechen, ehe ich sie sah! Auf dem Weg zum Long Room, dem 65m langen und in der Höhe zweistöckigen Bibliotheksaal, lag der Duft alter Bücher plötzlich in der Luft, hüllte mich ein und lies mich wissen: gleich bist du da. Im Long Room angekommen, überwältigte mich die Größe und Schönheit der Bibliothek, so dass ich zunächst gefangen von diesen Eindrücken war, ehe ich feststellte: Ich bin ausgeschlossen. Rund um den Saal verläuft ein Seil, welches TouristInnen von den Büchern trennt. Die Schwellensituation ist grandios: Man betritt das Collegegelände, dann das Gebäude, dann steigt man Treppen empor, wird durch den Duft vorbereitet, erwartet die Präsenz der Bücher förmlich, steht dann mitten in der Bibliothek und doch gibt es die letzte Schwelle, das Seil, welches einen von den Büchern trennt, aber eben auch den sozialen Raum einteilt in pivilegierte Personen, die die Bücher anfassen dürfen, und jene, die die Bücher nur sehen und riechen dürfen. Es entsteht eine in sich verschachtelte Schwellensituation (vergleichbar mit Matroschka-Puppen) der Inklusion und Exklusion.
Übersteigert wird diese Verschachtelung in Marsh’s Library. Hier gibt es zwei Bibliotheksnischen mit Gittertüren. In diese Nischen wurden früher die LeserInnen mit den von ihnen genutzten Bücher eingesperrt. Hier kommt Inklusion zu einem Höhepunkt. Man ist nicht nur „eingeschlossen“ in den sozialen Raum der privilegierten NutzerInnen mit dem Recht, den materiellen Raum der Bibliothek zu nutzen, sondern man wird mit dem Gegenstand des Buches an einem Leseort eingeschlossen. Man ist quasi noch einen Schritt weiter inkludiert, ehe man mit den Büchern arbeiten kann.
Anders in der Chester Beatty Library, in deren Räume die Sammlung von Chester Beatty ausgestellt ist. Hier sind die Bücher allesamt in Glaskästen aufbewahrt. Man sieht sie, man riecht sie nicht und niemand fasst sie an. Niemand ist auf der anderen Seite der Glasscheibe der Vitrine, auf welcher er/sie deutlich machen könnte: Es gibt einen Unterschied zwischen Dir und mir, ich bin näher dran, ich kann die Bücher anfassen und ihrem ursprünglichen Zweck, dem Lesen, zuführen. Die Chester Beatty Library ist ein Museum, keine Bibliothek.
Die Bücher werden durch diese Präsentationsformen und Praktiken aufgewertet zu Gegenständen mit sakralem Charakter. Durch Berührung findet eine auratische Ansteckung statt, das im Buch steckende Wissen überträgt sich auf die Lesenden. Diese auratische Ansteckung finden wir auch in anderen Kontexten, beispielsweise bei Vereidigungen bei Amtsantritten. Der Eid wird auf das Buch der Bücher, die Bibel, geschworen, wobei eine Hand auf die Bibel gelegt wird. Aus kultursoziologischer Perspektive wird dieses Initiationsritual verstärkt durch die auratische Ansteckung, die durch das Berühren der Bibel realisiert wird. Der Schwur ist ein heiliger Schwur und die Sakralität des Buches überträgt sich durch das Auflegen der Hand auf die schwörende Person und somit auch auf den Schwur selbst.
Ich stelle somit die These auf: Der Unterschied zwischen einer Bibliothek und einem Museum ist, dass man die Bücher (Exponate) anfassen kann, dass eine auratische Ansteckung stattfinden kann – vorausgesetzt man gehört zum privilegierten Kreis der NutzerInnen, welche alle Schwellen/Passagen hin zu den Büchern übertreten können. Und die Büchertapete kann diese auratische Ansteckung – wie das Museum – nicht leisten, sie ist lediglich ein Abbild, somit kann sie die Bücher nicht ersetzen. Eine Bibliothek ohne Bücher funktioniert nicht.
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