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Zwischen Nicht und Noch-Nicht – Zur Lage wissenschaftlicher Bibliotheken zwischen vorzeitigen Nachrufen und konkreten Utopien

„Redefining the Academic Library“ lautet der Titel eines umfangreichen und inhaltlich gehaltvollen Bericht des Education Advisory Board in Washington, DC vom November 2011 zur Lage von amerikanischen Universitätsbibliotheken, der in Form von – am Anfang scheinbar nicht ganz vollständigen – Präsentationsfolien die wichtigsten aktuellen Zwänge, Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Bibliotheken aufführt.

Auf diese Datei wurde auch im Blog „Conference Circuit“ von Donald T. Hawkins hingewiesen. Gefunden habe ich den Link in den „Current Cites“ von Roy Tennant, der zu den Folien richtig schreibt, dass diese

„[…] see the situation of academic libraries clearly and without rose-tinted lenses, and […] offer innovative responses. This is one of the single best sources for this kind of guidance I’ve seen in a long time … […] If you work in an academic library, you need to read this, take it to heart, and act.“

All die im Bericht angesprochenen Themen zum Status Quo und zur Zukunft von Bibliotheken sind sicherlich nicht neu, am wenigsten für naturwissenschaftlich-technische Bibliotheken! Aber so reflektiert und komprimiert bekommt man Ähnliches selten! Folgende Punkte erscheinen mir zusammenfassend als besonders wichtig:

  • Steigende Kosten, verringerte klassische Nutzungs- und andere Kennzahlen, neue Kundenbedürfnisse und -gewohnheiten sowie praktikable Alternativen setzen Bibliotheken unter Druck.
  • Bedarfsorientierung als genereller Trend ersetzt immer mehr das „restlose“ Sammeln mit Vollständigkeitsanspruch bei umfassendem Perfektionismus:
    • Immer mehr eBooks und „Patron-Driven Acquisition“! (Folien 25-35)
    • Zeitschriften bald nur noch Pay-Per-View oder Open Access?! (Folien 36-40)
    • Bibliotheksraum für Menschen statt für gedruckte Bestände! (Folien 41-46)
    • Als Bibliothekswesen hinter der Auskunfts- oder Informationstheke hervorkommen! Auch in den mobilen Bereich gehen! (Folien 47-53)
    • Informationskompetenz-Aktivitäten an die „Instant Gratification“-Generation anpassen! (Folie 49)
    • Spezial-Sammlungen hervorheben!
  • Menschen, die für Bibliotheken arbeiten, beschäftigen sich zukünftig vorrangig mit Spezial- und Problemfällen bzw. sind in lokale hochwertige Dienstleistungen eingebunden: „Embedded eBrarian, Multimedia Support, Departmental Informationist, Data Curation, Shared Specialists“(Folie 58)

Aber schauen Sie selbst in diesen Report! Und beobachten Sie sich, die Entwicklungen in Ihrer eigenen Bibliothek und Ihre Bibliotheksgäste!

Für die Situation von Bibliotheken typisch ist zur Zeit eine Form von Ungleichzeitigkeit, ein Begriff, der nicht zufällig auch an die Wortwahl der Überschrift dieses Beitrages verweist, die ebenfalls vom Philosophen Ernst Bloch inspiriert sind. Die Lage von Bibliotheken im Ökosystem der wissenschaftlichen Kommunikation ist geprägt „von Vielfalt und Verschiedenheit, mannigfache Abhängigkeiten und Zusammenhängen, vom Gegensatz zwischen lokal und global (vgl. das Motto ‚Denke global, handel lokal‘!) sowie von kontinuierlicher Weiterentwicklung “ (wie ich an anderer Stelle (S. 64) einmal geschrieben habe). Bisher gehörten Bibliotheken zu einer Schlüsselart in diesem Ökosystem. Sie ermöglichten Artenvielfalt und verhinderten die Verdrängung schwächerer Arten durch Mono-Kulturen. Ich wünsche mir, dass mein Lebensraum Bibliothek eine Schlüsselart bleibt und nicht in einer ökologischen Nische landet. Dass Letzteres passiert, können wir Menschen, die in der Bibliothek arbeiten, mit versuchen zu verhindern.